Als Mahārāja Parīkṣit von der Begebenheit mit Kālayavana, der zu Asche verbrannt wurde, hörte, fragte er Śukadeva Gosvāmī nach Einzelheiten über den schlafenden Mann. »Wer war er? Warum schlief er dort? Wie war er zu solcher Macht gelangt, daß Kālayavana nur durch seinen Blick auf der Stelle zu Asche verbrannte? Und wie kam es, daß er in einer Berghöhle lag?« Mahārāja Parīkṣit stellte Śukadeva Gosvāmī viele Fragen, und Śukadeva beantwortete sie wie folgt:
»Mein lieber König, dieser Mann wurde in der berühmten Familie König Ikṣvākus, in der auch Śrī Rāmacandra erschien, als Sohn des großen Königs Māndhāṭā geboren. Er selbst war auch eine große Seele und überall bekannt als Mucukunda. König Mucukunda befolgte sehr strikt die vedischen Prinzipien der brahmanischen Kultur, und er stand zu seinem Wort. Er war so mächtig, daß selbst Halbgötter wie Indra zu ihm kamen und ihn baten, ihnen gütigerweise in Kämpfen gegen Dämonen zu helfen; deshalb kämpfte er oft gegen die Dämonen, um den Halbgöttern beizustehen.«
Kārttikeya, der Oberbefehlshaber der Halbgötter, war sehr zufrieden mit König Mucukunda, der für ihn kämpfte, doch schließlich bat er den König, der so viele Beschwerlichkeiten in den Schlachten mit den Dämonen auf sich genommen hatte, sich vom Kampf zurückzuziehen und sich auszuruhen. Kārttikeya sprach: »Mein lieber König, Du hast alles für die Halbgötter geopfert. Du hattest ein blühendes Königreich, das von keinem Feind bedroht war, doch du ließest dein Reich zurück, kümmertest dich weder um Reichtum noch um Besitz und dachtest nie an die Erfüllung deiner persönlichen Wünsche. In der langen Zeit deiner Abwesenheit, da du mit den Halbgöttern gegen die Dämonen gekämpft hast, sind deine ganze Familie, deine Kinder, deine Verwandten und deine Minister alle gestorben. Die Zeit macht vor keinem Lebewesen halt. Wenn du nun nach Hause zurückkehrst, wirst du dort niemanden, der dir bekannt ist, antreffen. Die Zeit ist sehr mächtig, und unter ihrem Einfluß sind inzwischen all deine Verwandten gestorben. Die Zeit ist deshalb so mächtig und stark, weil sie ein Repräsentant des Höchsten Persönlichen Gottes ist; sie ist stärker als der Stärkste. Durch den Einfluß der Zeit können ohne weiteres Veränderungen in den feinstofflichen Dingen stattfinden. Niemand kann den Lauf der Zeit aufhalten. Ähnlich wie der Tierbändiger die Tiere nach seinem Willen abrichtet, greift die Zeit nach ihrem Willen in den Ablauf der Dinge ein. Niemand kann den Beschluß der erhabenen Zeit aufheben.«
Mit diesen Worten erboten sich die Halbgötter, König Mucukunda jegliche Segnung außer der Befreiung zu gewähren. Befreiung kann kein Lebewesen außer dem Höchsten Persönlichen Gott gewähren. Daher heißt Viṣṇu oder Kṛṣṇa auch Mukunda, was bedeutet »derjenige, der Befreiung gewähren kann.« König Mucukunda hatte viele Jahre lang nicht geschlafen. Die ganze Zeit hatte er voll Pflichtbewußtsein gekämpft, und daher war er nun sehr müde. Als die Halbgötter ihm deshalb ihren Segen anboten, dachte Mucukunda nur noch ans Schlafen. Er erwiderte also: »Lieber Kārttikeya, Bester unter den Halbgöttern, ich möchte nun endlich schlafen, und so erbitte ich von dir folgende Segnung: Bitte gib mir die Macht, jeden, der es wagt, meinen Schlaf zu stören und mich zu früh zu wecken, durch meinen bloßen Blick zu Asche zu verbrennen.« Der Halbgott erteilte ihm auch diese Segnung, so daß er sehr gut würde ruhen können. Anschließend begab sich König Mucukunda in die Berghöhle.
Kālayavana wurde also kraft der Segnung Kārttikeyas durch Mucukundas bloßen Blick zu Asche verbrannt. Danach erschien Kṛṣṇa vor Mucukunda. Er war eigentlich in die Höhle gekommen, um den König von seiner Zurückgezogenheit zu erlösen, doch zeigte Er sich dem König nicht sogleich, sondern richtete es so ein, daß Kālayavana zuerst vor Mucukunda trat. Das ist der Verlauf der transzendentalen Spiele des Höchsten Persönlichen Gottes: Er tut oft etwas in solcher Weise, daß viele Zwecke gleichzeitig erfüllt werden. Kṛṣṇa wollte König Mucukunda aus seinem Schlaf in der Höhle erlösen, und zugleich wollte Er Kālayavana töten, der die Stadt Mathurā angegriffen hatte. Auf diese Weise erfüllte Er alle Seine Absichten.
Als Śrī Kṛṣṇa vor Mucukunda erschien, sah der König, daß der Herr in ein gelbes Gewand gekleidet war, daß Seine Brust das Śrīvatsa-Zeichen schmückte und daß um Seinen Hals der Kaustubha-maṇi hing. Kṛṣṇa zeigte Sich ihm als vierarmiger Viṣṇu-mūrti, mit einer vaijayantī-Blumengirlande, die Ihm vom Hals bis hinunter zu den Knien reichte. Sein Blick war voll strahlenden Glanzes; Er lächelte wunderbar, und Seine Ohren zierten hübsche Juwelenohrringe. Kṛṣṇa sah schöner aus als ein Mensch es sich vorstellen kann. Er erschien nicht nur in dieser Gestalt, sondern sah Mucukunda mit so strahlendem Blick an, daß Er den Geist des Königs auf sich zog. Obwohl Er der Höchste Persönliche Gott war, der Älteste von allen, sah Er wie ein blühender Jüngling aus, und Seine Bewegungen glichen denen eines freien Hirsches. Kṛṣṇa schien von außerordentlicher Macht; Seine Macht ist so unvergleichlich groß, daß sich jeder Mensch vor Ihm fürchten sollte.
Als König Mucukunda Kṛṣṇas herrliche Gestalt sah, fragte er sich, wer Er wohl sein mochte, und voll Demut fragte er den Herrn: »Mein lieber Herr, darf ich fragen, aus welchem Grunde Du in diese Berghöhle gekommen bist? Wer bist Du? Ich kann sehen, daß Deine Lotosfüße zarten Lotosblüten gleichen. Wie konntest Du nur durch den Wald gehen, der voller Gestrüpp und Dornen ist? All dies wundert mich wirklich sehr. Bist Du am Ende der Höchste Persönliche Gott, der Mächtigste der Mächtigen? Bist Du nicht der Ursprung des Lichts und des Feuers? Kann ich Dich vielleicht als einen der großen Halbgötter, wie den Sonnengott, den Mondgott oder Indra, den König des Himmels, verstehen? Oder bist Du die herrschende Gottheit eines anderen Planeten?«
Mucukunda wußte sehr wohl, daß über jedes höhere Planetensystem eine Gottheit herrscht. Er war nicht so unwissend wie die Menschen von heute, die denken, es gebe nur auf dem Planeten Erde Lebewesen und alle anderen Planeten seien unbewohnt. Die Frage Mucukundas, ob Kṛṣṇa die herrschende Gottheit eines anderen, ihm unbekannten Planeten sei, wurde also nicht ohne Grund gestellt. Doch als reiner Geweihter des Herrn erkannte er sogleich, daß Śrī Kṛṣṇa, der ihm in einer solch herrlichen Gestalt erschienen war, nicht einer der über die materiellen Planeten herrschenden Halbgötter sein konnte. Er mußte der Höchste Persönliche Gott, Kṛṣṇa, sein, der in viele Viṣṇu-Formen erweitert ist. Somit erkannte er die Gestalt vor ihm als Puruṣottama oder Viṣṇu. Auch konnte er wahrnehmen, daß die tiefe Finsternis in der Berghöhle durch die Anwesenheit des Herrn gewichen war. Daher konnte die wundervolle Gestalt niemand anderes sein als der Höchste Persönliche Gott. Mucukunda wußte nämlich sehr wohl, daß überall dort, wo der Herr durch Seinen transzendentalen Namen, Seine Eigenschaften, Seine Gestalt usw. persönlich anwesend ist, die Dunkelheit der Unwissenheit nicht bleiben kann. Kṛṣṇa ist wie eine Lampe, die die Dunkelheit erhellt; Er erleuchtet jeden finsteren Ort. König Mucukunda verlangte es sehr danach, Śrī Kṛṣṇas Identität zu erfahren, und deshalb sagte er: »O Bester unter den Menschen, wenn Du mich für würdig erachtest, Deine Identität zu erfahren, so sage mir bitte, wer Du bist. Wer sind Deine Eltern, welcher Pflicht gehst Du nach, und wie ist es um Deine Familientradition bestellt?« König Mucukunda hielt es auch für angebracht, sich selbst dem Herrn vorzustellen, denn vorher war er nicht dazu berechtigt, sich nach Seiner Identität zu erkundigen. Es ist vedische Sitte, daß man eine höherstehende Person nicht nach Rang und Namen fragen darf, ohne sich zuvor selbst vorgestellt zu haben. König Mucukunda sagte also zu Kṛṣṇa: »Lieber Herr, erlaube bitte, daß ich mich Dir vorstelle. Ich gehöre der berühmten Dynastie König Ikṣvākus an, doch bin ich selbst nicht so bedeutend wie mein Vorvater. Mein Name ist Mucukunda, der Name meines Vaters ist Māndhāṭā, und mein Großvater war der große König Yuvanāśva. Ich war einst sehr müde, weil ich schon seit Tausenden von Jahren nicht geschlafen hatte; an allen Gliedern war ich erschöpft und konnte mich fast nicht mehr bewegen. Um wieder zu Kräften zu kommen, legte ich mich zum Schlafen in diese abgelegene Höhle, doch nun bin ich von einem fremden Mann gewaltsam geweckt worden, obwohl ich noch gar nicht aufwachen wollte. Für dieses Vergehen wurde der Unbekannte durch meinen Blick zu Asche verbrannt. Jetzt nun ist es mir vergönnt, Dich in Deiner herrlichen, anmutigen Gestalt zu sehen, und ich glaube, ich habe es Dir zu verdanken, daß ich meinen Feind töten konnte. Lieber Herr, ich muß gestehen, daß die Strahlen Deines Körpers meinen Augen unerträglich sind, und daß ich Dich deshalb nicht richtig sehen kann. Ich merke deutlich, daß durch den Einfluß Deiner Ausstrahlung meine mächtige Kraft verringert worden ist. Ich kann verstehen, daß Du es würdig bist, von allen Lebewesen verehrt zu werden.«
Als Śrī Kṛṣṇa sah, daß Mucukunda soviel daran gelegen war zu erfahren, wer Er war, entgegnete Er lächelnd: »Mein lieber König, es ist so gut wie unmöglich, etwas über Meine Geburt, Mein Erscheinen, Mein Fortgehen und Meine Taten zu sagen. Meine Inkarnation Anantadeva hat, wie Du vielleicht weißt, unzählige Münder, und er versucht seit unvordenklichen Zeiten alles über Meinen Namen, Meine Eigenschaften, Meine Taten, Mein Erscheinen, Mein Fortgehen und Meine Inkarnationen zu erzählen, und doch ist es ihm bisher noch nicht gelungen, ein Ende zu finden. Es ist also unmöglich, die Anzahl Meiner Namen und Formen zu bestimmen. Die materiellen Wissenschaftler mögen vielleicht in der Lage sein, die Anzahl der Atome zu berechnen, aus denen die Erde besteht, doch es wird ihnen niemals gelingen, Meine zahllosen Namen, Gestalten und Taten zu ermessen. Es gibt viele große Weise und Heilige, die versucht haben, ein Verzeichnis Meiner verschiedenen Formen und Taten zusammenzutragen, doch auch ihnen ist es nie gelungen, eine vollständige Liste aufzustellen. Weil du aber so begierig bist, etwas über Mich zu erfahren, sollst du wissen, daß Ich auf diesem Planeten erschienen bin, um die dämonischen Prinzipien der Menschen zu beseitigen und die religiösen Prinzipien, die in den Veden vorgeschrieben sind, wieder neu festzulegen. Zu diesem Zweck bin ich von Brahmā, dem über dieses Universum herrschenden Halbgott, eingeladen worden und in der Dynastie der Yadus als einer ihrer Abkömmlinge erschienen. Als der Sohn Vasudevas wurde Ich in der Yadu-Dynastie geboren, weshalb die Menschen Mich als Vāsudeva, den Sohn Vasudevas, kennen. Du solltest auch wissen, daß ich Kaṁsa, der in einem seiner früheren Leben Kālanemi hieß, wie auch Pralambāsura und viele andere Dämonen, tötete. Sie verhielten sich Mir gegenüber feindlich und wurden allesamt von Mir vernichtet. Der Dämon, der eben noch vor dir stand, war ebenfalls Mein Feind, doch gütigerweise hast du ihn durch deinen Blick zu Asche verbrannt. Mein lieber König Mucukunda, du bist Mein großer Geweihter, und nur um dir Meine grundlose Gnade zu erweisen, bin Ich in dieser Form erschienen; Ich bin nämlich Meinen Geweihten sehr zugetan, und du warst dein ganzes Leben lang, bevor du dich in die Höhle begabst, ein großer Gottgeweihter, und betetest um Meine grundlose Barmherzigkeit. So bin Ich denn hierhergekommen, um dich zu treffen und dir deinen Wunsch zu erfüllen. Nun kannst du Mich nach Herzenslust anschauen. Mein lieber König, du kannst Mich jetzt um jede Segnung bitten, die du dir ersehnst, und Ich bin bereit, dir jeden Wunsch zu erfüllen. Es ist Mir ein ewiger Grundsatz, jedem, der sich in Meine Obhut begibt, alle Wünsche zu erfüllen.«
Als Śrī Kṛṣṇa König Mucukunda anwies, Ihn um eine Segnung zu bitten, wurde der König von Freude überwältigt, denn er erinnerte sich plötzlich an die Vorhersage Gargamunis, der vor langer Zeit prophezeiht hatte, Śrī Kṛṣṇa werde im achtundzwanzigsten Zeitalter des Vaivasvata Manu auf dem Erdplaneten erscheinen. Sowie ihm diese Vorhersage einfiel, begann er zu begreifen, daß die Höchste Person, Nārāyaṇa, nun als Śrī Kṛṣṇa vor Ihm gegenwärtig war. Auf der Stelle fiel er zu Seinen Lotosfüßen nieder und brachte Ihm Seine Gebete dar:
»Lieber Herr, O Höchster Persönlicher Gott, ich weiß, daß alle Lebewesen auf diesem Planeten durch Deine äußere Energie verblendet und von der illusorischen Zufriedenheit, die sie aus der Befriedigung ihrer Sinne gewinnen, bezaubert sind. Weil sie völlig in illusorische Tätigkeiten vertieft sind, wollen sie nicht Deine Lotosfüße verehren, und da sie nichts von dem Segen wissen, den man erfahren kann, wenn man sich Deinen Lotosfüßen hingibt, sind sie verschiedenen leidvollen Bedingungen des materiellen Daseins ausgesetzt. Sie hängen törichterweise an sogenannter Gesellschaft, Freundschaft und Liebe, aus denen lediglich verschiedene Arten leidvoller Zustände entstehen. Von Deiner äußeren Energie getäuscht, hängt jeder - sei es Mann oder Frau - am materiellen Dasein, und alle betrügen einander in einer großartigen Gesellschaft von Betrügern und Betrogenen. Diese Verblendeten wissen das Glück, die menschliche Form des Lebens erlangt zu haben, nicht zu schätzen und weigern sich, Deine Lotosfüße zu verehren. Unter dem Einfluß Deiner äußeren Energie haften sie an dem Glanz materieller Tätigkeiten. Sie haften an sogenannter Gesellschaft, Freundschaft und Liebe und gleichen in diesem Zustand dummen Tieren, die in ein dunkles Brunnenloch gefallen sind.«
Dieses Beispiel vom dunklen Brunnen wird gegeben, weil es in Indien viele Felder gibt, in denen Brunnen gegraben sind, die seit Jahren nicht benutzt werden und daher von Gras überwuchert sind. Oft fallen bedauernswerte Tiere, die nicht davon wissen, in solche Brunnenlöcher und müssen dort, wenn man sie nicht rettet, sterben. Verlockt von ein paar Grashalmen fallen sie in die finsteren Brunnen und sterben eines elenden Todes. Ebenso ruinieren törichte Menschen, ohne die Bedeutung der menschlichen Lebensform zu kennen, ihr Leben, indem sie der Befriedigung ihrer Sinne nachjagen, und sterben dann ohne Erfüllung des wirklichen Lebenssinnes.
»Lieber Herr«, fuhr Mucukunda fort, »auch ich bilde keine Ausnahme für dieses universale Gesetz der materiellen Natur. Ich bin ebenfalls einer dieser dummen Menschen, die ihre Zeit für nichts und wieder nichts verschwendet haben, und meine Lage ist besonders schlimm. Weil ich dem königlichen Stand angehörte, war ich hochmütiger als gewöhnliche Menschen. Ein gewöhnlicher Mensch möchte über seinen Körper und seine Familie herrschen; ich aber dachte in ganz anderen Größenordnungen. Ich wollte der Herr über die ganze Welt werden, und als mit meinen Plänen zur Sinnenbefriedigung mein Hochmut immer größer wurde, verstärkte sich auch meine körperliche Lebensauffassung mehr und mehr. Meine Anhaftung an Haus, Frau und Kinder, an Geld und Herrschaft über die Welt wurde immer zwingender; sie kannte schließlich keine Grenzen mehr, und so waren meine Gedanken ständig bei meinen eigenen materiellen Lebensumständen. Daher, mein lieber Herr, habe ich bereits so viel meines wertvollen Lebens sinnlos verschwendet. Weil sich meine falschen Vorstellungen vom Leben immer mehr vertieften, begann ich, meinen materiellen Körper, der doch nichts weiter ist als ein Sack aus Fleisch und Knochen, für das ein und alles zu halten, und in meiner Eitelkeit glich ich einem Hund, der sich einbildet, er sei König über die menschliche Gesellschaft geworden. Mit dieser falschen, körperlichen Auffassung vom Leben begann ich mit meiner Streitmacht von Soldaten, Streitwagen, Elefanten und Reiterei über die ganze Welt zu ziehen. Unterstützt von vielen Generälen und stolz durch materielle Macht war ich nicht imstande, Dich, o Herr, zu erkennen, der stets als der engste Freund in meinem Herzen weilt. Ich wollte nichts von Dir wissen, und das war der grundlegende Fehler meines sogenannten hochgestellten materiellen Lebens. Ich glaube, daß sich, gleich mir, alle Geschöpfe nicht im geringsten um spirituelle Erkenntnis bemühen, sondern ständig voller Ängste sind und denken: ›Was soll ich tun? Was kommt als nächstes auf mich zu?‹ Und weil wir zu stark durch materielle Wünsche gebunden sind, bleiben wir auch weiterhin bei unserer Verrücktheit.
Aber obwohl wir so sehr in materielle Gedanken vertieft sind, kommt die unausweichliche Zeit, die nur eine Deiner Formen ist, stets gewissenhaft ihrer Pflicht nach, und sowie unsere Frist abgelaufen ist, beendest Du, o Herr, unsere materiellen Träume. Als die Zeit gebietest Du all unseren Tätigkeiten Einhalt, gleich der hungrigen Natter, die rasch und ohne Nachsicht eine kleine Ratte verschlingt. Durch die Macht der grausamen Zeit geschieht es, daß der königliche Körper, der einst stets mit goldenem Geschmeide geschmückt war, und der von einem Streitwagen gezogen wurde, vor den zierliche Pferde gespannt waren, oder der auf dem Rücken eines Elefanten getragen wurde und den man als König über die gesamte menschliche Gesellschaft pries, daß dieser gleiche königliche Körper zerfällt und unter dem Einfluß der unausweichlichen Zeit entweder ein Fraß für Würmer und Insekten wird oder zu Asche verbrennt oder sich in den Kot eines Tieres umwandelt. Dieser wunderbare Körper mag im lebenden Zustand sehr schön erscheinen, doch nach dem Tod wird selbst der Körper eines Königs entweder von einem Tier gefressen und verwandelt sich in Kot, oder er wird im Krematorium verbrannt und wird somit zu Asche, oder aber er wird in ein Grab geworfen, so daß nach einiger Zeit Würmer und Insekten aus ihm hervorkriechen.
Mein lieber Herr, wir stehen nicht nur zur Stunde des Todes unter der Herrschaft der unausweichlichen Zeit, sondern auch, in unterschiedlicher Form, während wir leben. Zum Beispiel bin ich ein mächtiger König, und dennoch werde ich, wenn ich nach der Eroberung der Welt nach Hause zurückkehre, vielen materiellen Umständen unterworfen sein. Es ist zwar möglich, daß, wenn ich siegreich zurückkehre, alle unterworfenen Könige vor mich treten und mir ihre Ehrerbietungen erweisen, doch sowie ich dann ins Innere des Palastes trete, werde ich ein Spielzeug in den Händen der Königinnen und muß für Sinnenbefriedigung Frauen zu Füßen fallen. Das materielle Leben ist so verwickelt, daß man, bevor man genießen kann, so schwer arbeiten muß, daß einem, im ganzen gesehen, kaum eine Möglichkeit zum Genießen bleibt. Wenn man zum Beispiel einen jugendlichen Körper mit all den damit verbundenen materiellen Vorteilen erlangen will, muß man sich schwere Opfer und Bußen auferlegen, um zu den himmlischen Planeten erhoben zu werden. Selbst wenn man das Glück hat, in einer reichen oder königlichen Familie geboren zu werden, ist man, auch in dieser Lebenslage, ständig darum besorgt, die Dinge im Gleichgewicht zu erhalten, und sich durch das Darbringen von Opfern und das Verteilen milder Gaben auf das nächste Leben vorzubereiten. Und selbst, wenn man König ist, hat man ständig Sorgen, nicht nur der politischen Verwaltung wegen, sondern auch wegen seines eigenen Aufstiegs zu den himmlischen Planeten.
Es ist also sehr schwierig, der materiellen Verstrickung zu entkommen, doch wenn man von Dir begünstigt wird, erhält man allein durch Deine Barmherzigkeit, auf irgendeine Weise die Möglichkeit, mit einem reinen Gottgeweihten zusammenzusein. Das bildet den Anfang für die Befreiung aus der Verstrickung des materiellen Lebens. Lieber Herr, nur durch den Umgang mit reinen Gottgeweihten gewinnt man eine Anziehung zu Deiner Herrlichkeit, dem Oberhaupt sowohl des materiellen als auch des spirituellen Daseins. Du bist das höchste Ziel aller reinen Gottgeweihten, in deren Gesellschaft man seine Liebe für Dich wiedererwecken kann. Man wird daher, wenn man Kṛṣṇa-Bewußtsein in Gemeinschaft mit reinen Gottgeweihten entwickelt, von der materiellen Verstrickung befreit.
Lieber Herr, Du bist so unsagbar gütig, denn obwohl ich gar nicht daran dachte, mit großen Gottgeweihten zusammenkommen zu wollen, hast Du mir Deine grenzenlose Barmherzigkeit erwiesen, indem Du mich eine kurze Begegnung mit dem reinen Gottgeweihten Gargamuni haben ließest. Durch Deine Barmherzigkeit nur habe ich allen materiellen Reichtum, mein Königreich und meine Familie verloren. Ich glaube nicht, daß ich ohne Deine grundlose Gnade jemals von all diesen Verstrickungen hätte frei werden können. Viele Könige und Fürsten beginnen ein Leben der Buße, um ihr königliches Leben zu vergessen, doch durch Deine ganz besondere grundlose Barmherzigkeit habe ich auch ohne ein solches Leben nichts mehr mit allem Königtum zu tun. Andere Könige bemühen sich, der Anhaftung an Königreich und Familie zu entkommen, indem sie die Mühseligkeiten der Entsagung auf sich nehmen, doch durch Deine Barmherzigkeit brauche ich nicht erst ein Bettelmönch zu werden oder Entsagung zu üben.
Lieber Herr, ich bete deshalb, Deinen Lotosfüßen immerzu transzendentale liebevolle Dienste darbringen zu dürfen, was die reinen Gottgeweihten, die von jeglicher materiellen Verunreinigung frei sind, ständig tun. Du bist der Höchste Persönliche Gott und kannst mir alles geben, was ich möchte, sogar die Befreiung. Doch wer wäre so dumm, Dich, nachdem er Dich erfreut hat, noch um etwas zu bitten, was zu Verstrickung in der materiellen Welt führen könnte? Ich glaube nicht, daß ein vernünftiger Mensch Dich um solch eine Segnung bitten würde. Ich gebe mich Dir völlig hin, denn Du bist der Höchste Persönliche Gott, Du bist die Überseele im Herzen jedes Lebenwesens, und Du bist die unpersönliche Brahman-Strahlung. Du bist sogar die materielle Welt, denn diese ist lediglich die Manifestation Deiner äußeren Energie. Daher bist Du, ganz gleich, von wo aus man Dich auch betrachtet, die höchste Zuflucht für jeden. Jeder, ob er sich auf der materiellen oder auf der spirituellen Ebene befindet, muß Zuflucht bei Deinen Lotosfüßen suchen. Aus diesem Grunde gebe ich mich Dir hin, o Herr. Viele, viele Leben hindurch ertrug ich die drei Leiden des materiellen Daseins, und ich bin es nun müde geworden. Ich wurde nur von meinen Sinnen getrieben, und ich war niemals zufrieden. Ich suche daher Zuflucht bei Deinen Lotosfüßen, die der Ursprung aller friedvollen Lebensumstände sind, und die alles Wehklagen, das auf materieller Verunreinigung beruht, beseitigen können. Lieber Herr, Du bist die Überseele eines jeden, und Du kannst alles verstehen. Ich bin nun von allen unreinen materiellen Wünschen befreit. Ich möchte weder die materielle Welt genießen noch mit Deiner spirituellen Ausstrahlung verschmelzen, noch möchte ich über Deinen lokalisierten Paramātma-Aspekt meditieren, denn ich weiß, daß ich völligen Frieden und Gleichmut erlange, wenn ich nur Zuflucht bei Dir suche.«
Auf dieses Gebet Mucukundas erwiderte Śrī Kṛṣṇa: »Mein lieber König, Ich freue Mich sehr über deine Worte. Du bist der Herrscher über alle Länder der Erde gewesen, und daher überrascht es Mich, daß dein Geist nun völlig frei ist von aller materiellen Verunreinigung. Du bist nun fähig, Mir hingabevoll zu dienen. Vor allem freut Mich, daß du nicht die Gelegenheit genutzt hast, als Ich dir anbot, jeden deiner Wünsche zu erfüllen, Mich um irgendwelche materiellen Vorteile zu bitten. Ich weiß, daß dein Geist nun fest auf Mich gerichtet ist und von keinem materiellen Fehler mehr beeinträchtigt wird. Es gibt drei materielle Erscheinungsweisen: Güte, Leidenschaft und Unwissenheit. Wenn man von den vermischten materiellen Eigenschaften Unwissenheit und Leidenschaft beherrscht wird, wird man von verschiedenen Formen der Unsauberkeit und von lüsternen Wünschen dazu getrieben, nach Annehmlichkeit in der materiellen Welt zu streben. Wenn man sich jedoch in der materiellen Erscheinungsweise der Güte befindet, versucht man sich durch Bußen und Opfer zu läutern. Hat man dann die Stufe eines echten brāhmaṇa erreicht, trachtet man danach, in die Existenz des Herrn einzugehen. Doch wenn jemand nur noch den Lotosfüßen des Höchsten Herrn dienen will, so ist das transzendental zu allen drei materiellen Erscheinungsweisen. Ein reiner Gottgeweihter im Kṛṣṇa-Bewußtsein ist daher immer frei von allen materiellen Eigenschaften. Mein lieber König, Ich bot dir an, jeden Deiner Wünsche zu erfüllen, um zu prüfen, wie weit du im hingebungsvollen Dienen fortgeschritten bist. Nun kann Ich sehen, daß du auf der Stufe der reinen Gottgeweihten stehst, denn dein Geist ist nicht mehr durch irgendwelche gierigen oder lüsternen materiellen Wünsche beeinträchtigt. Die yogīs, die versuchen, durch Sinnenbeherrschung Fortschritte zu machen, und die mit Hilfe der Atemübungen des prāṇāyāma über Mich meditieren, sind nicht, wie die reinen Gottgeweihten, von allen materiellen Wünschen frei. Es hat sich oftmals gezeigt, daß solche yogīs, sobald eine Verlockung auf sie wirkt, wieder auf die materielle Ebene sinken.«
Das anschaulichste Beispiel für solch einen Fall ist Viśvāmitra Muni, Er war ein großer yogī, der prānāyāma (die Kunst der Atemübung) praktizierte, doch als er von Menakā, einem Gesellschaftsmädchen von den himmlischen Planeten, besucht wurde, verlor er jegliche Beherrschung und zeugte mit ihr eine Tochter namens Śakuntalā. Der reine Gottgeweihte Haridāsa Ṭhākura indessen ließ sich niemals anfechten - nicht einmal, als Freudenmädchen ihm alle materiellen Verlockungen boten. Der Herr fuhr fort: »Mein lieber König, Ich gebe dir den besonderen Segen, daß du immer an Mich denken wirst. Auf diese Weise wirst du die materielle Welt leicht hinter dir lassen können, ohne von ihren Eigenschaften verunreinigt zu werden.« Der Herr bestätigt mit dieser Aussage, daß ein Mensch, der in wahrem Kṛṣṇa-Bewußtsein verankert ist und sich unter der Führung des geistigen Meisters im liebevollen Dienst des Herrn beschäftigt, niemals der Verunreinigung durch materielle Erscheinungsweisen ausgesetzt ist.
»Mein lieber König«, fuhr der Herr fort, »weil du ein kṣatriya bist, ludst du das Unrecht auf dich, Tiere zu schlachten - sowohl bei der Jagd als auch bei politischen Unternehmungen. Um davon gereinigt zu werden, praktiziere einfach bhakti-yoga und vertiefe deinen Geist in Mich, So wirst du schon sehr bald von allen Reaktionen auf solch abscheuliches Tun befreit werden.« Aus dieser Erklärung wird deutlich, daß es den kṣatriyas zwar erlaubt ist, Tiere bei der Jagd zu töten, doch daß auch sie nicht von der Verunreinigung durch anderen sündige Reaktionen frei sind. Daher ist es letztlich gleichgültig, ob man kṣatriya, vaiśya oder brāhmaṇa ist: jedem wird empfohlen, am Ende seines Lebens sannyāsa anzunehmen, um sich völlig im Dienst des Herrn zu beschäftigen und somit von allen Sünden des vorangegangenen Lebens frei zu werden.
Schließlich versicherte der Herr König Mucukunda: »In deinem nächsten Leben wirst du als vorzüglicher Vaiṣṇava, als der Beste der brāhmaṇas, geboren werden, und in diesem Leben wirst du ausschließlich in Meinem transzendentalen Dienst tätig sein.« Ein Vaiṣṇava ist ein brāhmaṇa ersten Ranges, denn jemand, der nicht die Eigenschaften eines echten brāhmaṇa erworben hat, kann kein Vaiṣṇava werden. Wenn man die Stufe des Vaiṣṇava erreicht, ist man nur noch für das Wohl aller Lebewesen tätig. Die höchste Wohltätigkeit für alle Lebewesen ist das Predigen von Kṛṣṇa-Bewußtsein. Diejenigen also, die ganz besonders vom Herrn begünstigt sind, können absolut Kṛṣṇa-bewußt werden und Vaiṣṇava-Philosophie predigen.