In der Bhagavad-gītā sagt der Herr, daß Sein Erscheinen, Seine Geburt und Seine Aktivitäten transzendental sind, und daß jeder, der sie wirklich versteht, ohne weiteres in die spirituelle Welt eingehen kann. Das Erscheinen bzw. die Geburt Gottes ist also nicht mit der eines gewöhnlichen Menschen zu vergleichen, der gezwungen ist, entsprechend seinen vergangenen Taten einen materiellen Körper anzunehmen. Warum der Herr erscheint, wurde bereits im 2. Kapitel dieses Buches erklärt: »Er erscheint aus Seiner transzendentalen Freude.«
Als die Zeit für das Erscheinen des Herrn heranreifte, begannen die Gestirne glückverheißende Konstellationen zu bilden. Auch war der starke Einfluß des Sternes Rohiṇī besonders auffällig. Dieser Stern gilt als sehr glückbringend. Er steht unter der direkten Aufsicht Brahmās. Nach Ansicht der Astrologen gibt es neben der normalen Stellung der Sterne günstige und ungünstige Momente, die durch unterschiedliche Stellungen der verschiedenen Planetensysteme verursacht werden. Zur Zeit der Geburt Kṛṣṇas ordneten sich die Planetensysteme wie von selbst so um, daß ihr Einfluß sehr glückverheißend wurde.
Zu jener Zeit herrschte überall - im Osten, Westen, Süden und Norden - eine Atmosphäre des Friedens und des Glücks. Günstige Gestirne waren am Himmel sichtbar, und auf der Erde zeigten sich in allen Städten und Dörfern, auf allen Weiden und Wiesengründen und im Geiste eines jeden Zeichen des Glücks. Die Flüsse schwollen an von klarem Wasser, und die Seen waren mit farbenprächtigen Lotosblüten übersät. In den Wäldern huben alle Vögel an, mit süßen Stimmen zu singen, und die Pfauen begannen, mit ihren Weibchen zu tanzen. Der Wind wehte sehr wohltuend und trug den Duft vieler Blumen mit sich, und auch die Empfindung körperlicher Berührung war sehr angenehm.
Die brāhmaṇas, die es gewohnt waren, im Feuer Opfer darzubringen, fanden die Bedingungen für solche Darbringungen sehr günstig. Wegen der Verfolgung, die von den dämonischen Königen angeordnet wurden, waren in den Häusern der brāhmaṇas fast keine Feueropfer mehr dargebracht worden, doch nun bot sich ihnen die Gelegenheit, das Feuer wieder in Frieden zu entzünden. Als ihnen das Darbringen von Opfern verboten worden war, hatten die brāhmaṇas sehr gelitten, wodurch sowohl ihr Geist als auch ihre Intelligenz und ihre Handlungen betroffen waren; doch zu der Zeit, da Śrī Kṛṣṇa erscheinen sollte, wurden sie von Freude erfüllt, denn sie konnten deutlich hörbare Schwingungen transzendentaler Klänge vom Himmel vernehmen, die das Erscheinen des Höchsten Persönlichen Gottes ankündigten.
Die Bewohner der Gandharva- und Kinnara-Planeten begannen zu singen, und die Bewohner von Siddhaloka und die der Planeten der Cāraṇas brachten zur Freude des Persönlichen Gottes Gebete dar. Auf den himmlischen Planeten begannen die Engel mit ihren Frauen, begleitet von den Apsaras, zu tanzen, und die großen Weisen und Halbgötter, die von großer Freude erfüllt waren, ließen Blumen regnen. Am Meeresstrand erklang das Lied der sanften Wellen, und über der See zogen Wolken am Himmel, aus denen wohltönender Donner schallte.
Als sich die Dinge so geordnet hatten, erschien Śrī Viṣṇu, der im Herzen jedes Lebewesens gegenwärtig ist, in der Dunkelheit der Nacht als der Höchste Persönliche Gott vor Devakī, die wie eine Halbgöttin anmutete. Das Erscheinen Viṣṇus zu jener Zeit kann mit dem Vollmond verglichen werden, der am östlichen Horizont aufging. Man könnte einwenden, daß der Vollmond zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht hätte aufgehen dürfen, da Śrī Kṛṣṇa am achten Tage des abnehmenden Mondes erschien, doch dieses Phänomen läßt sich erklären. Śrī Kṛṣṇa erschien in der Dynastie, die vom Mond persönlich abstammt, und daher war der Mond, obwohl er in jener Nacht eigentlich nicht vollständig sein konnte, von solcher Freude erfüllt, daß er durch die Gnade Kṛṣṇas als Vollmond erscheinen durfte.
In einer astrologischen Abhandlung namens Khamānikya werden die Konstellationen der Gestirne zur Erscheinungszeit Śrī Kṛṣṇas sehr genau beschrieben. Es wird dort bestätigt, daß das Kind, das in jenem günstigsten Augenblick geboren wurde, das Höchste Brahman bzw. die Absolute Wahrheit war.
Vāsudeva betrachtete mit Erstaunen das wundervolle Kind, das mit vier Armen geboren worden war und in den Händen Muschelhorn, Keule, Feuerrad und Lotos hielt, das mit dem Zeichen Śrīvatsas geschmückt war, das eine Juwelenhalskette aus kaustubha-Steinen trug, das in gelbe Seide gekleidet war, das wie eine schwärzliche Wolke glänzte, das einen Helm trug, der mit vaidūrya-Steinen besetzt war, das wertvolle Armbänder, Ohrringe und ähnliche andere Schmuckstücke am Körper trug und dessen Gesicht von einer prächtigen Haarfülle umrahmt war. Vāsudeva war über die außergewöhnliche Erscheinung des Kindes von Verwunderung ergriffen. Wie konnte ein neugeborenes Kind so wunderschön geschmückt sein? Er begriff deshalb, daß Śrī Kṛṣṇa nun erschienen war und war von dieser Erkenntnis völlig überwältigt. Er konnte es nicht fassen, daß der alldurchdringende Persönliche Gott Viṣṇu, Kṛṣṇa, als Kind in Seiner ursprünglichen Gestalt vor ihm erschienen war, der er doch ein gewöhnliches Lebewesen war, bedingt durch die materielle Natur und von Kaṁsa eingekerkert. Kein irdisches Kind wird mit vier Armen geboren, geschmückt mit kostbaren Juwelen und schönen Kleidern und versehen mit allen Zeichen des Höchsten Persönlichen Gottes. Immer wieder betrachtete Vāsudeva sein Kind liebevoll und überlegte, wie er diesen glücklichen Augenblick würdigen könnte. Er dachte bei sich: »Gewöhnlich feiert man die Geburt eines männlichen Kindes mit jubelnden Festen, und nun wurde mir, obgleich ich gefangen bin, der Höchste Persönliche Gott geboren. Wieviele Millionen und Abermillionen Male sollte ich bereit sein, dieses glückverheißende Ereignis zu feiern.«
Als Vāsudeva, der auch Ānakadundubhi genannt wird, sein neugeborenes Kind ansah, war er so glücklich, daß er den brāhmāṇas viele tausend Kühe als Spende geben wollte. Nach vedischem System verteilt der König großzügige Gaben, wenn eine glückverheißende Zeremonie im kṣatriya-Palast gefeiert wird. Zum Beispiel werden den brāhmāṇas und Weisen viele mit goldenen Gehängen geschmückte Kühe übergeben. Vāsudeva wollte ebenfalls eine solche Zeremonie begehen, um Kṛṣṇas Erscheinen zu feiern, doch weil er in Kaṁsas Gefängnis eingekerkert war, fehlte ihm jede Möglichkeit dazu. Statt dessen gab er den brāhmāṇas in Gedanken Tausende von Kühen.
Als Vāsudeva überzeugt war, daß das neugeborene Kind, das den ganzen Raum mit Seiner Ausstrahlung erhellte, der Höchste Persönliche Gott war, kniete er mit gefalteten Händen nieder, und begann, Ihm Gebete darzubringen. Schon zu dieser Zeit befand sich Vāsudeva auf der transzendentalen Ebene und war von aller Furcht vor Kaṁsa völlig befreit. Er betete: »O Herr, ich weiß, wer Du bist. Du bist der Höchste Persönliche Gott, die Überseele aller Lebewesen und die Absolute Wahrheit. Du bist in Deiner ursprünglichen, ewigen Gestalt erschienen, die von uns direkt wahrgenommen werden kann, und ich verstehe, daß Du erschienen bist, um mich von meiner Furcht vor Kaṁsa zu befreien. Du gehörst nicht zur materiellen Welt; Du bist die gleiche Person, die die kosmische Manifestation erschafft, indem Sie nur einen Blick über die materielle Natur wirft.«
Man mag einwenden, der Höchste Persönliche Gott, der die gesamte kosmische Manifestation einfach durch seinen Blick erschafft, könne nicht im Leib Devakīs, der Frau Vāsudevas, erscheinen. Um dieses Argument zu widerlegen, sagte Vāsudeva: »Mein lieber Herr, es nicht nicht weiter verwunderlich, daß Du im Leib Devakīs erschienen bist, denn die Schöpfung fand in ähnlicher Weise statt. Du lagst als Mahā-Viṣṇu im Ozean der Ursachen, und durch Dein Ausatmen entstanden unzählige Universen. Daraufhin gingst Du als Garbhodakaśāyī Viṣṇu in jedes der Universen ein, hast Dich dann noch einmal zu Kṣīrodakaśāyī Viṣṇu erweitert und bist in die Herzen aller Lebewesen und sogar in die Atome eingegangen. Und so ist auch Dein Eintreten in den Leib Devakīs zu verstehen. Du scheinst zwar dort gegenwärtig zu sein, aber gleichzeitig bist Du alldurchdringend. Anhand von Phänomenen, die wir in der materiellen Welt beobachten, können wir verstehen, wie Du gleichzeitig in etwas eingehen und trotzdem allgegenwärtig sein kannst. Sogar nach der Teilung in sechzehn Elemente bleibt die gesamte materielle Energie weiterhin bestehen. Der materielle Körper ist nichts weiter als eine Verbindung der fünf groben Elemente - Erde, Wasser, Luft, Feuer und Äther. Immer wenn ein materieller Körper entsteht, scheint es so, als ob die dazu erforderlichen Elemente neu geschaffen würden, aber tatsächlich existieren sie bereits vorher, und wenn der Körper manifestiert ist, auch außerhalb des Körpers. Ähnlich existierst Du, obwohl Du als Kind im Leibe Devakīs erscheinst, auch außerhalb von ihr. Du weilst immer in Deinem Reich, aber dennoch kannst Du Dich gleichzeitig in Millionen von Formen erweitern. Man muß Dein Erscheinen mit wahrer Intelligenz verstehen, da die materielle Energie ebenfalls von Dir ausgeht. Du bist die ursprüngliche Quelle der materiellen Energie, genau wie die Sonne der Ursprung des Sonnenlichtes ist. Der Sonnenschein kann den Sonnenplaneten nicht bedecken, und so kann auch die materielle Energie, da sie eine Emanation Deiner Person ist, Dich nicht bedecken. Du scheinst unter dem Einfluß der drei Erscheinungsweisen der materiellen Energie zu stehen, doch in Wirklichkeit können Dich diese Erscheinungsweisen nicht bedecken. Alle großen Philosophen bestätigen dies. Mit anderen Worten: Obwohl Du dem Einfluß der materiellen Energie unterworfen zu sein scheinst, wirst Du dennoch niemals von ihr bedeckt.«
Wir erfahren aus den Veden, daß das Höchste Brahman nach allen Seiten hin strahlt und somit alles erleuchtet. Der Brahma-saṁhitā können wir entnehmen, daß das brahmajyoti (die Brahman-Ausstrahlung) vom Körper des Höchsten Herrn ausgeht. Aus der Brahman-Ausstrahlung wiederum geht die gesamte Schöpfung hervor. In der Bhagavad-gītā wird gesagt, daß der Herr auch der Erhalter der Brahman-Ausstrahlung ist. Er ist die ursprüngliche Wurzel alles Existierenden. Doch Menschen mit geringer Intelligenz denken, der Höchste Persönliche Gott nehme materielle Eigenschaften an, wenn Er in der materiellen Welt erscheine. Schlußfolgerungen dieser Art sind jedoch nicht sehr weise, und nur die weniger Intelligenten vertreten solche Auffassungen.
Der Höchste Persönliche Gott existiert mittelbar und unmittelbar überall; Er weilt außerhalb der materiellen Schöpfung, und gleichzeitig befindet Er Sich auch in ihr. Er existiert in der materiellen Schöpfung nicht nur als Garbhodakaśāyī Viṣṇu, sondern ist auch in jedem Atom gegenwärtig. Alles Existierende beruht auf Seiner Gegenwart. Nichts kann von Seiner Existenz getrennt werden. Aus den vedischen Unterweisungen erfahren wir, daß man die Höchste Seele, die ursächliche Wurzel allen Seins, herausfinden muß, da nichts unabhängig von Ihr existiert. Auch die materielle Manifestation ist eine bestimmte Form Seiner Energie. Sowohl die Materie als auch die lebendige Kraft, die Seele, gehen von Ihm aus. Nur törichte Menschen glauben, der Höchste Herr nehme die Eigenschaften der Materie an, wenn Er erscheine. Selbst wenn Er dem Anschein nach einen materiellen Körper angenommen hat, ist Er dennoch keiner Dualität der materiellen Natur unterworfen. Mit Seinem Erscheinen hat Kṛṣṇa allen Spekulationen über das Erscheinen und Fortgehen des Höchsten Persönlichen Gottes ein Ende bereitet.
»Mein Herr, Dein Erscheinen, Deine Gegenwart und Dein Fortgehen werden von den materiellen Erscheinungsweisen nicht beeinflußt. Weil Du der Kontrollierende alles Existierenden und der Ruheort des Höchsten Brahman bist, gibt es nichts Unbegreifliches und Widersprüchliches für Dich. Wie Du Selbst gesagt hast, wirkt die materielle Natur unter Deiner Aufsicht - ähnlich, wie ein Regierungsbeamter, der die Anordnungen seines Vorgesetzten befolgt. Der Einfluß Dir untergeordneter Tätigkeiten kann Dich nicht berühren. Das Höchste Brahman und alle Erweiterungen existieren in Dir, und alle Vorkommnisse in der materiellen Natur werden von Dir, o Herr, kontrolliert.
Du wirst śuklam genannt. Śuklam (Weiße) ist die symbolische Repräsentation der Absoluten Wahrheit, da diese durch die Erscheinungsweisen der materiellen Natur nicht beeinflußt wird. Brahmā wird rakta (rot) genannt, weil er für die Erscheinungsweise der Leidenschaft zuständig ist. Die Dunkelheit gehört zu Śiva, weil dieser den Kosmos vernichtet. Die Schöpfung, Verrichtung und Erhaltung der kosmischen Manifestation wird durch Deine Kräfte bewirkt, doch Du Selbst wirst niemals davon beeinflußt. Wie in den Veden bestätigt wird (harir hi nirguṇaḥ sākṣāt), ist der Höchste Persönliche Gott immer frei von allen materiellen Erscheinungsweisen. Die Erscheinungsweisen der Leidenschaft und der Unwissenheit sind in der Person des Höchsten Herrn nicht vorhanden.
O Herr, Du bist der Höchste Kontrollierende, der Persönliche Gott, der Absolute, der die Ordnung der kosmischen Manifestation erhält. Und obgleich Du der Höchste Kontrollierende bist, bist Du dennoch in Deiner Güte vor mir erschienen. Du bist gekommen, um die dämonischen Herrscher zu töten, die sich in königliche Gewänder gekleidet haben, obwohl sie in Wirklichkeit Dämonen sind. Ich bin sicher, daß Du sie alle, zusammen mit ihren Anhängern und Soldaten, töten wirst. Ich weiß, daß Du erschienen bist, um den üblen Kaṁsa und seine Anhänger zu töten. Da er wußte, daß Du erscheinen würdest, um ihn und seine Anhänger zu vernichten, hat er bereits alle Deine älteren Brüder ermordet. Nun wartet er nur noch auf die Nachricht Deiner Geburt. Sobald er davon hört, wird er sofort mit allen greifbaren Waffen erscheinen, um Dich zu vernichten.«
Nach diesem Gebet Vāsudevas brachte Devakī, die Mutter Kṛṣṇas, ihre Gebete dar. Sie fürchtete sich sehr vor den Grausamkeiten ihres Bruders und sagte daher: »Mein lieber Herr, Deine ewigen Formen wie Nārāyaṇa, Rāma, Śeṣa, Varāha, Nṛsiṁha, Vāmana, Baladeva und Millionen ähnlicher Inkarnationen, die von Viṣṇu ausgehen, werden in den vedischen Schriften als ursprünglich beschrieben. Du bist ursprünglich, weil sich all Deine Formen bzw. Inkarnationen jenseits der materiellen Schöpfung befinden. Sie existierten, bevor die kosmische Manifestation erschaffen wurde, und sind ewig und alldurchdringend. Sie strahlen aus sich selbst heraus, sind unveränderlich und nicht von den materiellen Erscheinungsweisen verunreinigt. Solche Formen sind immer voller Wissen, sind voller Glückseligkeit; sie befinden sich in transzendentaler Reinheit und sind fortwährend in verschiedene Spiele vertieft. All diese transzendentalen ewigen Formen sind in sich selbst zufrieden. Du bist nicht auf eine bestimmte Gestalt begrenzt, und ich kann verstehen, daß Du der Höchste Herr Viṣṇu bist.
Nach vielen Millionen von Jahren, wenn Brahmās Leben zu Ende geht, wird die kosmische Manifestation aufgelöst, und die fünf Elemente - Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther - gehen in das mahat-tattva ein. Das mahat-tattva wiederum tritt unter dem Zwang der Zeit in die nichtmanifestierte, gesamte materielle Energie ein, die gesamte materielle Energie wird vom pradhāna aufgenommen, und das pradhāna geht schließlich in Dich ein. Daher bist Du es allein, der nach der Vernichtung der gesamten kosmischen Manifestation mit Deinem transzendentalen Namen, Deiner transzendentalen Gestalt, Deinen transzendentalen Eigenschaften und Deiner transzendentalen Umgebung weiterhin existierst.
O mein Herr, ich bringe Dir meine respektvollen Ehrerbietungen dar, denn Du bist der Herr über die gesamte nichtmanifestierte Energie, und Du bist die urerste Ursache der materiellen Natur. Die gesamte kosmische Manifestation unterliegt dem Einfluß der Zeit. Alles geschieht unter Deiner Aufsicht. Du bist der ursprüngliche Herr alles Existierenden und die Quelle aller Energien. Daher bitte ich Dich, o Herr, mich aus der Gewalt des grausamen Kaṁsa zu erretten. Ich bete zu Dir, daß Du mich aus diesem angstvollen Zustand befreiten mögest, der Du immer bereit bist, Deinen Dienern Schutz zu gewähren.«
Der Herr hat diese Feststellung in der Bhagavad-gītā bestätigt, als Er Arjuna versicherte: »Der ganzen Welt kannst du verkünden, daß Mein Geweihter niemals vergehen wird.«
Während sie so um Rettung betete, wurde Mutter Devakīs mütterliche Liebe deutlich: »Ich weiß«, sagte sie, »daß Deine transzendentale Gestalt im allgemeinen nur von den großen Weisen in tiefer Meditation geschaut werden kann, doch nun, da Du erschienen bist, befürchte ich, daß Kaṁsa Dir Leid zufügen könnte, sobald er davon erfährt. Daher möchte ich Dich bitten, für den Augenblick für unsere materiellen Augen unsichtbar zu werden. Nur Deinetwegen fürchte ich meinen Bruder. O Madhusūdana, Kaṁsa könnte bereits erfahren haben, daß Du schon geboren bist, und daher bitte ich Dich, Deine herrliche vierarmige Gestalt zu verbergen, die die vier Symbole Viṣṇus hält - das Muschelhorn, das Feuerrad, die Keule und die Lotosblüte. O Herr, am Ende der Vernichtung der kosmischen Manifestation nimmst Du das gesamte Universum in Deinem Leib auf, und dennoch bist Du in Deiner reinen Barmherzigkeit in meinem Schoß erschienen. Ich bin verwundert, daß Du wie ein gewöhnliches menschliches Wesen handelst, nur um Deine Geweihten zu erfreuen.«
Nachdem Kṛṣṇa die Gebete Devakīs angehört hatte, antwortete Er: »Meine liebe Mutter, im Zeitalter des Svāyambhuva Manu, lebte Mein Vater, Vāsudeva, als einer der Prajāpatis, und sein Name zu jener Zeit war Sutapā, und du warst seine Frau, mit Namen Pṛśni. Als Brahmā wünschte, die Bevölkerung zu vermehren, bat er euch, Nachkommenschaft zu zeugen. Ihr habt daraufhin gelernt, eure Sinne zu beherrschen, und habt strenge Entsagungen auf euch genommen. Indem ihr die Atemübungen des yoga-Systems praktiziertet, ward ihr fähig, alle äußeren Einflüsse der materiellen Natur zu ertragen: Regenzeiten, Winterstürme und die glühende Hitze des Sommers. Ihr befolgtet alle religiösen Prinzipien und konntet auf diese Weise euer Herz reinigen und vom Einfluß der materiellen Natur unberührt bleiben. In völliger Entsagung lebtet ihr und pflegtet, nur zu Boden gefallene Blätter zu essen. Dann, als euer Geist stetig geworden und euer fleischliches Verlangen beherrscht war, verehrtet ihr Mich und erbatet euch eine wunderbare Segnung von Mir. Nach der Zeitrechnung der Halbgötter habt ihr zwölftausend Jahre lang strenge Bußen auf euch genommen. Während dieser Zeit waren alle eure Gedanken immer in Mich vertieft. Als ihr Mir in Hingabe dientet und ohne Unterlaß an Mich dachtet, war Ich über euch sehr erfreut. O sündlose Mutter, dein Herz ist immer rein. Auch zu jener Zeit erschien Ich in dieser Gestalt vor dir und fragte dich nach deinen Wünschen. Damals hattest du den Wunsch, Mich als deinen Sohn zu gebären. Obwohl du Mich persönlich sahst, batest du Mich, unter dem Einfluß Meiner Energie, dein Sohn zu werden, statt deine Befreiung vom Gefangensein in der materiellen Welt zu erbitten.«
Der Herr wählte Sich also Pṛśni und Sutapā zu Seinen Eltern, um in der materiellen Welt zu erscheinen. Wann immer der Herr in der Gestalt des menschlichen Wesens kommt, muß Er jemanden als Vater und Mutter haben, und so wählte Er Pṛśni und Sutapā als Seine ewigen Eltern. Aus diesem Grunde konnten sowohl Pṛśni als auch Sutapā den Herrn nicht um Befreiung bitten. Befreit zu werden ist nicht so wichtig, wie dem Herrn in transzendentaler Liebe zu dienen. Der Herr hätte Pṛśni und Sutapā augenblickliche Befreiung gewähren können, doch zog Er es vor, sie für Seine verschiedenen Erscheinungen in der materiellen Welt zu behalten. Nachdem sie vom Herrn die Segnung empfangen hatten, Seine Eltern zu werden, beendeten Pṛśni und Sutapā ihre Bußen und lebten als Mann und Frau zusammen, um ein Kind zu zeugen, das der Höchste Gott Selbst sein sollte. Nach einiger Zeit wurde Pṛśni schwanger und brachte das Kind zur Welt.
Der Herr sprach weiter zu Devakī und Vāsudeva: »Zu jener Zeit war Mein Name Pṛśnigarbha. Im nächsten Zeitalter wurdet ihr dann als Aditi und Kaśyapa geboren, und Ich wurde euer Kind mit dem Namen Upendra. Meine Gestalt glich der eines Zwerges, und daher war Ich auch als Vāmanadeva bekannt. Ich gab euch die Segnung, daß Ich dreimal als euer Sohn geboren werden würde. Das erste Mal wurde ich von Pṛśni und Sutapā als Pṛśnigarbha geboren; bei der nächsten Geburt hieß ich Upendra und ihr Aditi und Kaśyapa, und nun, beim drittenmal, bin Ich als Kṛṣṇa euch, Devakī und Vāsudeva, geboren. Ich erschien in dieser Viṣṇu-Gestalt, um euch davon zu überzeugen, daß Ich der gleiche Höchste Persönliche Gott bin, der euch geboren wurde. Ich hätte auch als ein gewöhnliches Kind erscheinen können, doch dann hättet ihr nicht geglaubt, daß Ich, der Höchste Persönliche Gott, aus Devakīs Schoß geboren wurde. Meine lieben Eltern, ihr habt Mich viele Male mit großer Zuneigung und Liebe als euer Kind aufgezogen, und daher habe Ich Meine Freude an euch und bin euch sehr dankbar. Ich versichere euch daher, daß ihr dieses Mal zurück nach Hause, zurück zu Gott gehen werdet. Ich weiß, daß ihr um Mich besorgt seid, denn ihr fürchtet Kaṁsa. Bringt Mich deshalb sofort nach Gokula und tauscht Mich gegen die Tochter aus, die gerade von Yaśodā geboren wurde.«
Nachdem Er so zu Seinem Vater und zu Seiner Mutter gesprochen hatte, nahm der Herr die Gestalt eines gewöhnlichen Kindes an und blieb still. Vāsudeva nahm daraufhin Seinen Sohn und machte sich auf, während zur gleichen Stunde Nanda und Yaśodā in Gokula eine Tochter geboren wurde. Es war Yogamāyā, die innere Kraft des Herrn, durch deren Einfluß alle Bewohner im Palast Kaṁsas, vor allem die Torwächter, von tiefem Schlaf überwältigt wurden. Alle Palasttore öffneten sich, obgleich sie mit eisernen Ketten verschlossen waren. Die Nacht war sehr dunkel, aber sobald Vāsudeva mit Kṛṣṇa auf dem Arm in die Finsternis hinaustrat, wurde alles hell erleuchtet.
Im Śrī Caitanya-caritāmṛta wird gesagt, daß Kṛṣṇa wie das Sonnenlicht ist, und daß dort, wo Kṛṣṇa ist, die illusionierende Energie, die mit Dunkelheit verglichen wird, nicht standhalten kann. Als Vāsudeva Kṛṣṇa trug, wich die Dunkelheit der Nacht. Alle Gefängnistüren öffneten sich wie von selbst. Zur gleichen Zeit rollte ein Donnern am Himmel und schwerer Regen setzte ein. Während Vāsudeva seinen Sohn Kṛṣṇa durch den prasselnden Regen trug, hielt Śeṣa in der Gestalt einer Schlange Seine Häupter über den Kopf Vāsudevas und schützte ihn vor dem Regen. Als Vāsudeva zum Ufer der Yamunā kam, sah er, daß diese mit schäumenden Wogen dahinbrauste. Dennoch gab der Fluß, obwohl er so wild erschien, eine Furt frei, damit Vāsudeva ungehindert ans andere Ufer gelangen konnte, ähnlich wie auch der Indische Ozean einen Weg für Rāmacandra freigab, als dieser eine Brücke über den Golf von Bengalen baute. Auf diese Weise überquerte Vāsudeva die Yamunā. Als er das Haus Nanda Mahārājas und Yaśodās in Gokula erreichte, sah er, daß alle Kuhhirten in tiefem Schlaf lagen. Schnell nutzte er die Gelegenheit, betrat leise das Haus und vertauschte seinen Sohn mit dem neugeborenen Mädchen Yaśodās. Daraufhin kehrte er zum Gefängnis Kaṁsas zurück, legte das Mädchen vorsichtig in den Schoß Devakīs und legte sich die Fesseln wieder an, damit Kaṁsa nicht bemerkten konnte, daß in der Zwischenzeit so vieles geschehen war.
Mutter Yaśodā war sich bewußt, daß sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, aber weil sie von der Anstrengung der Geburt sehr erschöpft war, lag sie in tiefem Schlaf. Als sie erwachte, konnte sie sich nicht mehr erinnern, ob sie ein männliches oder ein weibliches Kind geboren hatte.