- Die Lehren Śrī Kṛṣṇa Caitanyas -
Original Version - Erste Auflage 1975
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von Seiner Göttlichen Gnade
A.C Bhaktivedanta Swami Prabhupāda
Gründer und ācārya der Internationalen
Gesellschaft für Kṛṣṇa-Bewußtsein
Die Lehren
Śrī Kṛṣṇa Caitanyas
von
Seine Göttliche Gnade
A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda
Gründer-Ācārya der Internationalen Gesellschaft
für Kṛṣṇa-Bewußtsein e.V.
Inhalt
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Die Lehren
Śrī Kṛṣṇa Caitanyas
Eine Abhandlung
über wirkliches spirituelles Leben
THE BHAKTIVEDANTA BOOK TRUST BBT
Titel der Originalausgabe:
Teachings of Lord Caitanya
Für die Übersetzung aus dem Englischen verantwortlich:
Vedavyāsa dāsa brahmacārī (Christian Jansen)
Śacīnandana dāsa brahmacārī (Thorsten Pettersson)
Nikhilānanda dāsa brahmacārī (Nikolay Jankowsky)
1. Auflage 1.-10. Tausend
Copyright © THE BHAKTIVEDANTA BOOK TRUST
Alle Rechte vorbehalten
Herausgeber:
Internationale Gesellschaft für Kṛṣṇa-Bewußtsein e.V.
6241 Schloß Rettershof/i. Ts.
Tel.: 06174/21357
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Für seine unersetzliche Hilfe bei der Herausgabe
dieses Werkes gilt unser
besonderer Dank
Prof. Dr. W. H. Wolf-Rottkay
Associate Professor
Emeritus of German
and
Linguistics at the University of Southern California.
Die Übersetzer
Gewidmet
dem heiligen Dienst
Śrīla Sac-cid-ānanda Bhaktivinoda Ṭhākuras
der die Lehren Śrī Kṛṣṇa Caitanyas im Jahre 1896
dem Jahr meiner Geburt
in die westliche Welt brachte
(McGill University, Canada)
A. C. Bhaktivedanta Swami |
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Geleitwort
Als Śrī Kṛṣṇa Caitanya Mahāprabhu vor fünfhundert Jahren erschien, um den Weg aus der Gottesleere und Gottferne der Menschen zur Gottesnähe zu weisen, hatte das Zeitalter, das die Veden als das Kali-yuga bezeichnen, die materielle Welt schon lange in seinem Bann gehalten. Auch wir Heutigen befinden uns in dieser Ära des Haders und der Heuchelei, deren Ende als das eines Schöpfungszyklus den vedischen Schriften zwar wohlbekannt ist, jedoch noch in unendlich weiter, Jahrtausende ferner Zukunft liegt.
Aus der apokalyptischen Tiefe und Vielfalt der vedischen Sicht steigt die Lehre Śrī Caitanyas als ein kindhaft Leichtes und Faßbares. Śrī Kṛṣṇa Caitanya, der nach der maßgeblichen Aussage des Śrīmad-Bhāgavatam die Inkarnation Gottes im gegenwärtigen Zeitalter ist, lehrte durch Sein persönliches Beispiel die Unterweisung der uralten Offenbarungsurkunden:
harer nāma harer nāma harer namaiva kevalam
kalau nāsty eva nāsty eva nāsty eva gatir anyathā.
»Chantet den heiligen Namen, chantet den heiligen Namen, chantet den heiligen Namen, denn im Kali-yuga gibt es keinen anderen Weg zur Selbstverwirklichung.« (Bṛhan-Naradīya Purāṇa)
In der Gestalt des Gottgeweihten lebte der Meister täglich und stündlich das Vorbild der Gottergebenheit, die heiligen Namen des Herrn stets auf den Lippen: „Hare Kṛṣṇa, Hare Kṛṣṇa, Kṛṣṇa, Kṛṣṇa, Hare Hare - Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare.“ Der moderne Mensch ist leicht geneigt, Gott als ein imaginäres Wesen abzulehnen, ohne auch nur das geringste von Ihm zu wissen. So erscheint ihm auch die dem Chanten des mahā-mantras innewohnende Kraft nur in der Einbildung einiger „sentimentaler Phantasten“ zu existieren. Das Leben und Wirken Śrī Caitanyas, wie es in dem vorliegenden Werk beschrieben wird, beweist jedoch in eindringlicher Klarheit die universale Anwendbarkeit und Wirksamkeit dieser erhabenen und zugleich einfachen Methode der Gotteserkenntnis. Somit weist Er uns allen den Weg zurück nach Hause, zurück zu Gott.
Prof. Dr. W. H. Wolf-Rottkay
Vorwort
Zwischen den Lehren Śrī Kṛṣṇa Caitanyas, die in diesem Buch dargelegt werden, und den Lehren, die Śrī Kṛṣṇa in der Bhagavad-gītā offenbart, besteht kein Unterschied, denn die Lehren Śrī Caitanyas bilden eine konkrete Veranschaulichung der Anweisungen Śrī Kṛṣṇas. In einem der letzen Verse der Bhagavad-gītā fordert Śrī Kṛṣṇa jeden auf, sich einfach Ihm hinzugeben, und Er verspricht, Sich jeder Ihm hingegebenen Seele besonders anzunehmen. Śrī Kṛṣṇa kümmert Sich zwar schon in Seiner vollständigen Erweiterung als Kṣīrodakaṣāyī Viṣṇu um die Erhaltung der gesamten Schöpfung, doch diese Erhaltung ist nur allgemeiner Natur. Kṛṣṇas Versprechen, daß Er eine Ihm ergebene Seele in Seine Obhut nehmen werde, bezieht sich insbesondere auf den reinen Gottgeweihten. Unter einem reinen Gottgeweihten versteht man eine dem Höchsten Herrn auf ewig hingegebene Seele. Er ist wie ein Kind, das sich seinem Vater bedingungslos anvertraut hat. Diese Hingabe äußert sich in sechs Verhaltensmerkmalen: 1) alles anzunehmen, was für die Ausübung des hingebungsvollen Dienens von Vorteil ist, 2) alles abzulehnen, was für die Ausübung des hingebungsvollen Dienens nachteilig ist, 3) fest darauf zu vertrauen, daß der Herr Seinen Geweihten stets beschützen wird, 4) sich ganz und gar von der Barmherzigkeit des Höchsten Herrn abhängig zu wissen, 5) kein anderes Interesse außer dem Interesse des Herrn zu kennen und 6) immer demütig und bescheiden zu sein.
Śrī Kṛṣṇa forderte jeden auf, sich Ihm durch das Befolgen der oben genannten sechs Vorgänge hinzugeben, doch weniger intelligente Menschen und sogenannte Gelehrte mißverstanden Seine Aufforderung und verleiteten die Allgemeinheit genau zum Gegenteil. In der Bhagavad-gītā gibt uns Kṛṣṇa am Ende des Neunten Kapitels die direkte Anweisung, ständig an Ihn zu denken, sich Ihm zu weihen, nur Ihn zu verehren und Ihm allein Ehrerbietungen zu erweisen, und Er versichert uns, daß wir durch solche spirituellen Bemühungen in Sein transzendentales Reich gelangen können. Sogenannte Gelehrte indessen, die in Wirklichkeit nichts weiter als Halunken sind, wollen den Menschen weismachen, daß sie sich nicht dem Höchsten Persönlichen Gott hinzugeben brauchen, sondern der »unpersönlichen, nicht manifestierten, ewigen, ungeborenen Wahrheit« in Kṛṣṇa. Die Māyāvādīs, die Anhänger der Unpersönlichkeitslehre, wollen nämlich nicht anerkennen, daß die Erkenntnis des Höchsten Persönlichen Gottes die höchste Verwirklichung der Absoluten Wahrheit darstellt. Die Absolute Wahrheit wird in drei Aspekten erkannt: als Brahman, als Paramātma und als Bhagavān. Unter »Brahman« versteht man die unendliche Lichtfülle, die vom transzendentalen Körper des Höchsten Gottes ausgeht; »Paramātma« ist der lokalisierte, alldurchdringende Überseelen-Aspekt der Absoluten Wahrheit, und »Bhagavān« bezeichnet den Höchsten Persönlichen Gott Selbst, den Ursprung des Brahman und des Paramātma. Die Māyāvādīs befinden sich auf einer unteren Stufe der Erkenntnis, denn sie sind vom gleißenden Licht des Brahman geblendet und halten es für die Absolute Wahrheit; doch die Upaniṣaden bestätigen, daß man die Strahlen des Brahman durchdringen muß, wenn man das wirkliche Wesen der Absoluten Wahrheit erkennen will, und daß man danach das transzendentale Antlitz des Höchsten Persönlichen Gottes sehen wird.
Śrī Caitanya lehrt uns daher, direkt Śrī Kṛṣṇa zu verehren, der als Sohn Nanda Mahārājas erschien, und Er erklärt auch, daß z. B. das transzendentale Land von Vṛndāvana ebensogut ist wie der Herr Selbst, da Kṛṣṇa die Absolute Wahrheit ist, der Höchste Persönliche Gott, und somit kein Unterschied besteht zwischen Ihm und Seinem Namen, Seinen Eigenschaften, Seiner Gestalt, Seinen transzendentalen Spielen, Seiner Umgebung und allem, was sonst noch direkt zu Ihm in Beziehung steht. Der Herr lehrt auch, daß sich das hingebungsvolle Dienen der gopīs, der Mädchen von Vṛndāvana, auf der höchsten Stufe der Gottesliebe befindet, da sie Kṛṣṇa ohne irgendein Verlangen nach materiellem oder spirituellem Gewinn lieben. Weiter verkündet Er, daß das Śrīmad Bhāgavatam transzendentales Wissen in reinster Form offenbart, und daß der größte Gewinn im menschlichen Leben darin besteht, reine Liebe zu Śrī Kṛṣṇa, den Höchsten Persönlichen Gott, zu entwickeln.
Śrī Caitanyas Lehren unterscheiden sich im Grunde nicht von denen Śrī Kapilas, dem Begründer des sāṅkhya-yoga. Die Grundlage des sāṅkhya-yoga bildet die Meditation über die transzendentale Gestalt des Herrn. Śrī Kapila empfahl niemals, über etwas Leeres oder Unpersönliches zu meditieren. Wenn man schließlich die Stufe erreicht hat, auf der man immer und überall - auch ohne in einer bestimmten Sitzstellung zu verharren - über die transzendentale Gestalt Viṣṇus meditiert, hat man die Vollkommenheit, d. h. samādhi erreicht. In der Gītā wird diese Stufe am Ende des Sechsten Kapitels beschrieben; Śrī Kṛṣṇa sagt dort: »Wer ständig im Innersten seines Herzens mit Liebe und Hingabe an Mich denkt, ist der größte aller yogīs.« Śrī Caitanya lehrte die Philosophie des sāṅkhya, die auch bekannt ist als »acintya-bhedābheda tattva« (die Absolute Wahrheit ist unfaßbar gleichzeitig eins mit und verschieden von der gesamten Schöpfung), anhand einer für jeden anwendbaren Methode, indem Er nämlich das Chanten* der heiligen Namen Gottes verbreitete. Er erklärte dazu: »Der heilige Name des Herrn ist Seine Klang-Gestalt. Da Kṛṣṇa das Absolute Ganze ist, besteht kein Unterschied zwischen Seinem transzendentalen Namen und Seiner transzendentalen Gestalt, und wenn man daher Seinen Namen chantet, kann man mit Ihm durch diese Klangschwingung zusammensein.« Beim Chanten gibt es drei Stufen: 1) die Stufe der Vergehen, 2) die Stufe der Läuterung und 3) die transzendentale Stufe. Auf der ersten Stufe ist man noch um materielles Glück und Leid besorgt; auf der zweiten Stufe wird man allmählich von aller materieller Verunreinigung befreit, und auf der transzendentalen Stufe erreicht man die höchste Vollkommenheit - Liebe zu Gott. Śrī Caitanya erklärte, daß diese Stufe die höchste Voll- kommenheit sei, die ein Mensch erreichen könne.
* chanten - singen oder sprechen
Das eigentliche Ziel des yoga ist die Beherrschung der Sinne. Da die Sinne unter der Kontrolle des Geistes stehen, muß man als erstes lernen, die Gedanken zu beherrschen. Dies ist am einfachsten und wirksamsten zu verwirklichen, indem man sie in Kṛṣṇas Dienst stellt. Die Wirkungsweise des Geistes zeigt sich einmal in groben Aktivitäten, d. h. durch die Sinne, die entweder rein mechanisch Eindrücke aufnehmen und Wissen sammeln oder zielgerichtet unter der Direktive des Willens tätig sind, und zum anderen in feinen Aktivitäten, d. h. in Denken, Fühlen und Wollen, das vom jeweiligen Bewußtseinszustand abhängt. Das Bewußtsein ist entweder getrübt oder klar. Wenn der Geist auf Kṛṣṇa gerichtet ist - auf Seinen Namen, Seine Eigenschaften, Seine Gestalt, Seine Spiele, Sein transzendentales Reich usw., wirken sich seine groben wie auch feinen Aktivitäten vorteilhaft für uns aus und helfen uns, von der materiellen Bedingtheit befreit zu werden. Zur Läuterung des Bewußtseins empfiehlt das Śrīmad-Bhāgavatam, den Geist auf Kṛṣṇa zu richten, indem man über Seine transzendentalen Taten spricht, Seinen Tempel reinigt, Seinen Tempel besucht, Seine prachtvoll geschmückte transzendentale Gestalt betrachtet, von Seinen transzendentalen Herrlichkeiten hört, von den zu Ihm geopferten Speisen kostet, den Duft der Blumen und tulasī-Blätter riecht, die Ihm dargebracht wurden, die Gesellschaft von Gottgeweihten aufsucht, sich im Interesse des Herrn beschäftigt und zornig auf diejenigen wird, die den Gottgeweihten übelwollen. Niemand kann den Tätigkeiten des Geistes und der Sinne Einhalt gebieten, doch man kann sie läutern, indem man das Bewußtsein, mit dem man sie ausführt, verändert. Wie dies geschehen kann, wird in der Bhagavad-gītā beschrieben: »O Sohn Kuntīs, alles, was du tust, alles, was du ißt, alles, was du opferst und fortgibst, sowie alle Bußen, die du dir auferlegst, sollen Mir als Opfer dargebracht werden.« (Bg. 9.27)
Weniger intelligente Menschen wissen nicht, wie sie Geist und Sinne positiv beherrschen können, und wollen deshalb entweder die Aktivität beider gänzlich beenden oder sich von den Wogen der Sinnenfreude davontragen lassen.
Die acht Methoden im yoga-System, nämlich das Befolgen bestimmter Regeln und regulierender Prinzipien, die Übung verschiedener Sitzstellungen, Atemübungen usw., durch die man lernt, die Sinne von ihren Objekten zurückzuziehen, sind nur für Menschen bestimmt, die zu sehr dem körperlichen Bewußtsein verhaftet sind. Intelligente Menschen sollten nicht versuchen, die Sinne gewaltsam zu unterdrücken, sondern sie im Dienste Kṛṣṇa gebrauchen. Die Sinne werden oft mit einem lebhaften Kind verglichen: Man kann ein solches Kind auf die Dauer nicht von unsinnigen Spielen zurückhalten, indem man es untätig herumsitzen läßt, sondern nur, indem man ihm eine sinnvolle Beschäftigung gibt. Die künstliche Zügelung der Sinne durch bestimmte yoga-Übungen wird also nur Menschen empfohlen, die sich auf einer unteren Bewußtseinsebene befinden. Die Intelligenteren sollten höheren Tätigkeiten im Kṛṣṇa-Bewußtsein nachgehen - auf diese Weise verlieren sie ganz von selbst den Geschmack an materiellem Sinnengenuß.
Śrī Kṛṣṇa Caitanya lehrt uns anhand dieser Grundsätze die absolute Wissenschaft des Kṛṣṇa-Bewußtseins. Die intellektuellen Spekulanten versuchen zwar, sich vor der Anhaftung an die materielle Welt durch trockene Zurückhaltung zu bewahren, doch sie werden in den meisten Fällen von ihren Gedanken, über die sie nicht Herr zu werden vermögen, wieder in den Sumpf der Sinnenfreude heruntergezogen. Für einen Kṛṣṇa-bewußten Gottgeweihten besteht diese Gefahr nicht, und deshalb sollte man unbedingt Geist und Sinne in den Dienst Kṛṣṇas stellen. Wie dies praktisch getan werden kann, wird uns vom Herrn Selbst in Seiner Erscheinung als Śrī Kṛṣṇa Caitanya gezeigt. Bevor Śrī Caitanya sannyāsa annahm und damit in die Lebensstufe der Entsagung eintrat, wurde Er Viṣvambhara genannt. »Viṣvambhara« bedeutet soviel wie »der Führer aller Lebewesen, der das gesamte Universum erhält.« Dieser höchste Erhalter und Führer erschien als Śrī Kṛṣṇa Caitanya und lehrte, wie man den eigentlichen Sinn und Zweck des Lebens erfüllen kann. Er verschenkt reine Liebe zu Kṛṣṇa, weshalb Er auch die großmütigste Inkarnation Gottes genannt wird, und Er ist der Ozean aller Barmherzigkeit und allen Glücks. Obwohl Er, wie im Śrīmad-Bhāgavatam, im Mahābhārata und in den Upaniṣaden bestätigt wird, der Höchste Persönliche Gott Śrī Kṛṣṇa ist, erschien Er im Zeitalter der Uneinigkeit in einer Form, in der Er von jedem verehrt werden kann. Jeder kann sich, ohne besonders qualifiziert zu sein, Seiner saṅkīrtana-Bewegung anschließen und durch das Befolgen Seiner Lehren die Vollkommenheit erlangen. Wenn man so glücklich ist, von Seiner Erscheinung angezogen zu sein, wird man gewiß das Ziel des menschlichen Lebens erreichen. Kurz gesagt: Wer daran interessiert ist, ein spirituelles Leben zu führen, kann durch die Gnade Śrī Caitanyas sehr leicht aus der Gewalt māyās befreit werden. Aus diesem Grund stellen wir Śrī Caitanya nun in Form dieses Buches vor, das nicht von Ihm verschieden ist.
Weil die bedingte Seele von ihrem materiellen Körper in Anspruch genommen wird, geht sie selbstvergessen materiellen, zeitweiligen Tätigkeiten nach; doch die Lehren Śrī Caitanyas können ihr helfen, solchem unsinnigen Tun ein Ende zu bereiten und sich zur höchsten Ebene der spirituellen Aktivität zu erheben, die nach der Befreiung von der materiellen Bedingtheit beginnt. Im Kṛṣṇa-Bewußtsein zur Freude Kṛṣṇas tätig zu sein stellt das Ziel allen menschlichen Strebens nach Vollkommenheit dar. Der Wunsch nach Herrschaft über die materielle Natur ist Illusion; doch durch die Lehren Śrī Caitanyas kann man mit wirklichem Wissen erleuchtet werden und somit im spirituellen Leben fortschreiten.
Die bedingte Seele ist gezwungen, die Folgen ihres Tuns zu genießen oder zu erleiden. Niemand kann dieses Gesetz der materiellen Natur umgehen. Solange man materialistischen, gewinnbringenden Tätigkeiten nachgeht, wird man bei dem Versuch, das endgültige Ziel des Lebens zu erreichen, scheitern. Ich hoffe daher aufrichtig, daß die menschliche Gesellschaft durch die Lehren Śrī Caitanyas ein neues Verständnis vom spirituellen Leben gewinnt, das ihr den Aktivitätsbereich der reinen Seele erschließt.
om tat sat
A.C. Bhaktivedanta Swami
14. März 1968
Am Erscheinungstag Śrī Kṛṣṇa Caitanya Mahāprabhus
Śrī Śrī Rādhā-Kṛṣṇa Tempel, New York
Prolog
Das Leben Śrī Kṛṣṇa Caitanya Mahāprabhus
von Śrīla Bhaktivinoda Ṭhākura
Śrī Kṛṣṇa Caitanya Mahāprabhu erschien in Māyāpura im Stadtteil Nadia (Navadvīpa) am 18. Februar des Jahres 1486 kurz nach Sonnenuntergang. Bei Seinem Erscheinen herrschte eine Mondfinsternis, während der die Einwohner des Ortes, wie es bei solchen Anlässen üblich ist, unter lauten Rufen von »Hari bol! Hari bol!« im Bhāgīrathī badeten. Sein Vater, Jagannātha Miṣra, ein armer brāhmaṇa von vaidischem Stand, und Seine Mutter Śacī-devī, eine vorbildliche Mutter und Ehefrau, stammten beide aus brāhmaṇa-Familien, die ursprünglich in Sylhet beheimatet waren.
Śrī Caitanya war ein bildschönes Kind und wurde häufig von den Frauen der Stadt besucht, die nur kamen, um Ihn anzuschauen, und Ihm bei diesen Gelegenheiten die verschiedensten Geschenke mitbrachten. Der Vater Seiner Mutter, Paṇḍita Nīlāmbara Cakravartī, ein berühmter Astrologe, prophezeite, daß das Kind eine große Persönlichkeit werden würde, und gab Ihm daher den Namen Viṣvambhara. Die Nachbarsfrauen nannten Ihn wegen Seiner goldenen Hautfarbe »Gaura Hari« und Seine Mutter rief Ihn »Nimāi«, da Er unter einem nim-Baum geboren wurde. Weil Caitanya so außergewöhnlich schön war, freute sich jeder, der Ihn sah, und bald entwickelte Er Sich zu einem vergnügten, immer zu Streichen aufgelegten Knaben. Er war überaus intelligent und wurde schon mit fünf Jahren in die Schule aufgenommen, wo Er in erstaunlich kurzer Zeit Bengali lernte. Seine zeitgenössischen Biographen berichten von vielen wundersamen Begebenheiten und Wundertaten, die in Seine frühe Kindheit fallen. So wird z. B. gesagt, daß Er als kleines Kind in den Armen Seiner Mutter unaufhörlich weinte und Sich erst wieder beruhigte, wenn die Nachbarsfrauen und Seine Mutter »Hari bol! Hari bol!« riefen. Daher war im Hause von Jagannātha Miṣra ständig das Chanten von »Hari bol« zu hören, - ein frühes Vorzeichen auf die Botschaft des Herrn. Als Er einmal Tonerde statt Süßigkeiten aß, fragte Ihn Seine Mutter nach dem Grund Seines Verhaltens, worauf Er antwortete, daß jede Süßigkeit in Wirklichkeit nichts anderes sei als umgewandelte Erde, und daß Er daher ebensogut gleich Erde essen könne. Daraufhin erklärte Ihm Seine Mutter, die als Frau eines Paṇḍita, eines Gelehrten, recht verständig war, daß jeder Gegenstand in Seinem jeweiligen Zustand einem ganz bestimmten Zweck diene. »Wenn Tonerde zu einem Wassertopf geformt ist,« so sagte sie, »kann sie zum Kochen verwendet werden, doch in der Form eines Ziegelsteins ist dies nicht möglich. Somit kann Erde in Form von Süßigkeiten als Nahrung verwendet werden, aber nicht in anderen Zustandsformen.« Der Junge ließ Sich durch dieses Argument überzeugen und gestand Seine »Dummheit« ein.
Als einmal ein brāhmaṇa, der auf seiner Pilgerfahrt im Hause von Caitanyas Eltern eingekehrt war, in stiller Meditation sein Essen Kṛṣṇa opferte, kam Śrī Caitanya herbei und aß die Speisen noch während der Opferung auf. Der brāhmaṇa war hierüber nicht wenig erstaunt, doch kochte er auf Bitten Jagannātha Miṣras hin noch einmal. Aber auch bei der zweiten Opferung erschien plötzlich der Junge und verzehrte die noch ungeopferten Speisen. Als der brāhmaṇa schließlich ein drittes Mal sein Essen opferte, nachdem sich bereits alle Bewohner des Hauses zur Ruhe gelegt hatten, offenbarte Sich ihm Śrī Caitanya als Kṛṣṇa und gab ihm Seinen Segen. Sowie der brāhmaṇa erkannte, daß der Persönliche Gott, der Empfänger seiner Opferungen, vor ihm erschienen war, fiel er in Ekstase.
Als der kleine Caitanya einmal vor der Tür Seines Elternhauses spielte, entführten Ihn zwei Diebe, um Seinen Juwelenschmuck zu rauben; doch der Herr entfaltete Seine illusionierende Energie, so daß die beiden Diebe in Verwirrung gerieten und Ihn, ohne es zu merken, wieder nach Hause zurückbrachten. Aus Furcht vor Entdeckung ließen sie sogleich von Ihm ab und entflohen.
Mit acht Jahren wurde Caitanya Mahāprabhu in die tol von Gaṅga dāsa Paṇḍita aufgenommen, der in Gaṅganāra, einem Ort in der Nähe von Māyāpura, lebte. Innerhalb von nur zwei Jahren wurde Er ein ausgezeichneter Schüler in der Grammatik und Rhetorik des Sanskrit. Danach bildete Er Sich allein zuhause weiter, wo Er alle wichtigen Bücher fand, da Sein Vater selbst ein großer Gelehrter war. Er studierte damals nicht nur die smṛti, sondern auch die nyāya im Wettbewerb mit Seinen Freunden, die von dem berühmten Gelehrten Raghunātha Śiromani unterrichtet wurden.
Mit zehn Jahren beherrschte Śrī Caitanya die Grammatik und Rhetorik des Sanskrit vollkommen und war ein Meister der smṛti und der nyāya. Zu dieser Zeit verließ Sein älterer Bruder Viṣvarūpa das Elternhaus und trat die Lebensstufe der Entsagung an, worüber seine Eltern sehr bekümmert waren. Śrī Caitanya, der noch recht jung war, tröstete sie, indem Er ihnen versprach, ihnen weiter zur Freude Gottes zu dienen. Kurze Zeit später verschied Sein Vater, und Seine Mutter setzte ihre ganze Hoffnung in Ihn. Im Alter von fünfzehn Jahren wurde Śrī Caitanya mit Lakṣmī-devī, der Tochter von Vallabhācārya, vermählt. Zu diesem Zeitpunkt galt Caitanya bereits als einer der besten Gelehrten von ganz Nadia, dem berühmten Sitz der nyāya-Philosophie und der Sanskrit-Wissenschaft. Alle nyāyaika-Paṇḍitas, ganz zu schweigen von den smārta-Paṇḍitas, fürchteten sich, Ihm in Diskussionen über die Schriften gegenüberzutreten.
Da Er nun verheiratet war, reiste Er eines Tages nach Ost-Bengalen, um dort Reichtum zu erwerben, und Seine Gelehrtheit verhalf Ihm schon nach kurzer Zeit zu einer ansehnlichen Summe Geldes. Zu jener Zeit begann der Herr auch, bei Gelegenheit Vaiṣṇava-Philosophie zu predigen. Nachdem Er Tapana Miṣra, einen Seiner ersten Schüler, in den Grundsätzen der Vaiṣṇava-Lehre unterwiesen hatte, sandte Er ihn nach Benares mit dem Auftrag, dort zu predigen.
Als Śrī Caitanya nach Nadia zurückkehrte, fand Er Seine Mutter in tiefer Trauer. - Lakṣmī-devi war an den Folgen eines Schlangenbisses gestorben. Kurze Zeit später heiratete Er auf Drängen Seiner Mutter Viṣṇu-priyā, die Tochter des Rāja Paṇḍitas Sanātana Miṣra, und da Er nun wieder in Nadia lebte, schlossen sich Ihm Seine alten Gefährten wieder an. Caitanya Mahāprabhu galt nun als der beste Paṇḍita der Stadt.
Eines Tages kam der berühmte Gelehrte Keṣava Miṣra Kāsmīrī, der sich selbst »der große Digvijāyi« nannte, nach Nadia, um sich mit den Paṇḍitas der Stadt in Diskussionen über die Schriften zu messen. Doch die tol-Professoren von Nadia befürchteten, vor dem sogenannten »siegreichen Paṇḍita« ihren guten Ruf zu verlieren, und verließen daher die Stadt unter dem Vorwand, unaufschiebbaren Einladungen nachkommen zu müssen. So fand Keṣava Miṣra also nur Śrī Caitanya vor, den er bei einem Spaziergang am Barokonaghata in Māyāpura traf. Bereits nach kurzer Diskussion mußte er sich geschlagen geben, und da er diese Demütigung nicht ertragen konnte, sah er sich gezwungen, das Feld zu räumen. Damit war Nimāi Paṇḍita der größte Gelehrte Seiner Zeit.
Mit siebzehn Jahren begab Er Sich mit einigen ausgewählten Schülern nach Gaya und ließ Sich dort von dem großen Vaiṣṇava Iṣvara Purī die spirituelle Einweihung geben. Nach der Rückkehr in Seine Heimatstadt fand eine wundersame Veränderung in Nimāi Paṇḍitas Wesen statt. Er wurde zu einem religiösen Prediger, und seine Religiosität trat so stark hervor, daß sich Advaita Prabhu, Śrīvāsa und viele andere, die schon vor Caitanyas Geburt Vaiṣṇavas gewesen waren, zu dem jungen Mann hingezogen fühlten. Er war nicht länger ein selbstzufriedener nyāyaika, ein zänkischer smārta oder ein kritisierender Rhetoriker. Sowie Er den heiligen Namen »Kṛṣṇa« hörte, wurde Er ohnmächtig, und Er verhielt Sich wie ein Erleuchteter unter dem Einfluß religiöser Empfindungen. Murāri Gupta, ein Augenzeuge, berichtet in seinen Aufzeichnungen, daß Śrī Caitanya Seine göttlichen Kräfte in Śrīvāsa Paṇḍitas Haus in Anwesenheit von Hunderten Seiner Anhänger offenbarte, die größtenteils bedeutende Gelehrte waren.
Zu jener Zeit eröffnete Er auch zusammen mit den ernsthaftesten Seiner Schüler eine nächtliche Kīrtanschule. Dort predigte, sang und tanzte Er und zeigte dabei die verschiedensten Symptome religiöser Ekstase. Nityānanda Prabhu, ein Vaiṣṇava-Prediger, der gerade von weiten Reisen durch ganz Indien nach Nadia zurückgekehrt war, und viele andere ernsthafte Vaiṣṇavas aus verschiedenen Teilen Bengalens schlossen sich Ihm ebenfalls an. Somit wurde Nadia bald zur ständigen Residenz der größten Vaiṣṇava-ācāryas (heilige Lehrer), deren einziges Ziel es war, die gesamte Menschheit durch hingebungsvolles Dienen zu spiritualisieren.
Der erste Auftrag, den Śrī Caitanya Seinen beiden engsten Gefährten, Nityānanda Prabhu und Haridāsa Ṭhākura, gab, lautete: »Geht durch die Straßen der Stadt, klopft an jede Tür, und bittet jeden, den heiligen Namen Haris zu singen und ein gottesbewußtes Leben zu führen. Kommt dann am Abend wieder und berichtet Mir, wie es euch ergangen ist.« Gleich beim ersten Mal trafen Nityānanda Prabhu und Haridāsa Ṭhākura auf Jagāi und Mādhāi, die beiden übelsten Trunkenbolde und Frauenhelden der Stadt. Sowie diese die beiden Prediger kommen sahen und ihre Bitte hörten, begannen sie zu fluchen und zu schimpfen und sogar handgreiflich zu werden, doch Śrī Caitanyas bhakti (Liebe zu Gott) war so stark, daß auch sie schließlich durch Seine Macht bekehrt wurden.
Die Einwohner von Nadia waren über diese Ereignisse in höchstem Maße erstaunt, und so sagten sie: »Nimāi Paṇḍita ist nicht nur ein Genie, sondern auch ein Heiliger - der Allmächtige Selbst muß Ihn geschickt haben.«
Bis zu Seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr predigte Śrī Caitanya die Prinzipien der bhakti in Nadia und den umliegenden Dörfern und Städten. In den Häusern Seiner Anhänger tat Er Wunder, hielt Vorträge über die esoterischen Lehren der bhakti und sang zusammen mit anderen bhaktas (Gottgeweihten) die heiligen Namen Gottes. Als Seine Anhänger begannen, die heiligen Namen Haris auch auf den Straßen und Bazaren von Nadia zu singen, wurde die saṅkīrtana-Bewegung zu einem öffentlichen Diskussionsgegenstand. Die bhaktas begrüßten das Singen auf den Straßen, doch die smārtas, die kastenbewußten brāhmaṇas beneideten Śrī Caitanya um Seine Erfolge und beklagten sich beim Kazi darüber, daß Seine Lehre nicht hinduistisch sei. Somit erschien der Kazi eines Tages im Hause von Śrivāsa Paṇḍita, zerbrach dort eine mṛdaṅga (Trommel, die beim saṅkīrtana gespielt wird) und erklärte, er werde Caitanya Mahāprabhu und Seine Anhänger zwingen, zum Islam überzutreten, wenn diese nicht aufhörten, mit ihrer »wunderlichen Religion« Unruhe zu stiften. Als Śrī Caitanya von dem Vorfall hörte, ordnete Er an, daß sich noch am gleichen Abend alle Einwohner von Nadia mit einer Fackel in der Hand vor der Stadt versammeln sollten. Dies geschah, und so begab Er Sich gefolgt von einer hunderttausend Mann starken saṅkīrtana-Prozession zum Hause des Kazi. In einem langen Gespräch setzte Er ihm die Prinzipien der bhakti auseinander, und als Er schließlich den Körper des Mohammedaners berührte und so in dessen Herz die Liebe zu Gott eingab, wurde der Kazi von Ekstase ergriffen. Weinend bekannte er, daß er einen starken spirituellen Einfluß fühle, der alle Seine Zweifel beseitige und in ihm ein religiöses Gefühl hervorrufe, das ihn in höchste Ekstase versetze. Er fiel dem Herrn zu Füßen und versprach, Ihm in Zukunft jede Unterstützung zu gewähren; danach nahm auch er an der Prozession teil. Jeden erfüllte die spirituelle Macht des Herrn mit Erstaunen, und viele vormals ungläubige und neidische Menschen schlossen sich Seiner saṅkīrtana-Bewegung an.
Nur einige der starrsinnigen und mißgünstigen brāhmaṇas aus Kulia verhielten sich weiter feindselig gegenüber Śrī Caitanya und sammelten eine Schar Gleichgesinnter um sich, mit der Absicht, gegen Ihn zu opponieren.
Nimāi Paṇḍita war von Natur aus weichherzig, doch strikt, wenn es um Prinzipien ging. Er erklärte, daß Parteidenken und Sektierertum die beiden größten Feinde des spirituellen Lebens seien, und daß Seine Mission nicht völlig erfolgreich sein könne, solange Er Einwohner einer bestimmten Stadt und Angehöriger einer bestimmten Familie bliebe. Entschlossen löste Er daher alle Bindungen an Familie, Kaste und Konfession und faßte im Alter von vierundzwanzig Jahren den Entschluß, sannyāsa anzunehmen und damit die Lebensstufe der Entsagung anzutreten. Seine Mutter und Seine Frau versuchten weinend, Ihn von Seinem Vorhaben abzubringen, doch Nimāi Paṇḍita blieb fest und verließ bald darauf die kleine Welt von Nadia, um Sich der unbegrenzten spirituellen Welt Kṛṣṇas und damit zugleich der gesamten Menschheit zuzuwenden.
Nachdem Nimāi Paṇḍita von Keṣava Bhāratī in Katwa zum sannyāsī geweiht geworden war (bei diesem Anlaß erhielt Er den Namen »Caitanya«), wurde Er von Advaita Prabhu nach Śāntipura eingeladen. Advaita hatte alle Freunde und Bewunderer des Herrn aus Nadia wie auch Seine Mutter Śacī-devī kommen lassen. Als Śacī-devī ihren Sohn im Gewand des sannyāsī sah, war ihr Herz von Freude und Schmerz zugleich erfüllt. Śrī Kṛṣṇa Caitanya trug nichts weiter als ein kaupin und ein bagirbas (Tuch, mit dem sich die sannyāsīs bekleiden); Sein Kopf war kahlrasiert, und in den Händen hielt er einen daṇḍa (Stab) und einen kamandalu (Wassertopf der Einsiedler).
Sowie der Herr Seine geliebte Mutter sah, fiel Er ihr zu Füßen und sagte: »Liebe Mutter, Mein Körper gehört dir, und was immer du möchtest, werde Ich tun. Bitte erlaube Mir, nach Vṛndāvana zu gehen, denn die heilige Atmosphäre dort eignet sich ganz besonders gut für ein spirituelles Leben.« Nachdem sich Śacī-devī mit Advaita Prabhu und einigen anderen beraten hatte, bat sie ihren Sohn, Seinen Wohnsitz in Purī, der Stadt Śrī Jagannāthas* aufzuschlagen, so daß sie hin und wieder von Ihm hören könnte. Mahāprabhu erklärte Sich mit Ihrem Vorschlag einverstanden und machte Sich wenige Tage später nach Orissa auf.
* Śrī Jagannātha - die Bildgestalt des Herrn in Seinem Aspekt als der Herr des Universums.
Biographen haben die Reise Śrī Caitanyas von Śāntipura nach Jagannātha Purī in allen Einzelheiten festgehalten: Der Herr wanderte am Ufer des Bhagirathi entlang, bis Er Chatrabhog erreichte, setzte dann Seine Reise mit einem Boot fort und fuhr bis Prayāga-Ghat im Distrikt von Midnapura. Von dort ging Er zu Fuß weiter bis Er schließlich über Balasore und Cuttack nach Purī kam. Gleich nach Seiner Ankunft besuchte Er den Tempel von Jagannātha, wo Er dem Höchsten Herrn sogleich Seine Ehrerbietungen erwies. Dort traf Er auch Sārvabhauma Bhaṭṭācārya, der Ihn einlud, bei sich zu wohnen.
Sārvabhauma war ein überragender Paṇḍita; Seine Belesenheit kannte keine Grenzen; er war der beste nyāyaika seiner Zeit und stand in dem Ruf, der kundigste Gelehrte der Vedānta-Philosophie zu sein, wie sie von Śaṅkarācārya gelehrt wurde. Er stammte ebenfalls aus Nadia, wo er in seiner dortigen tol zahllose Schüler in der nyāya-Philosophie unterwiesen hatte; doch war er schon lange Zeit vor Śrī Caitanyas Erscheinen nach Purī gegangen. Sein Schwiegerbruder Gopīnātha Miṣra stellte ihm den neuen sannyāsī vor, und Sārvabhauma, den die außergewöhnliche Schönheit des Herrn erstaunte, bemerkte, daß es für den jungen Mann nicht leicht sein würde, das ganze Leben hindurch sannyāsī zu bleiben. Doch Gopīnātha Miṣra, der Śrī Kṛṣṇa Caitanya schon aus Nadia kannte und Ihn sehr verehrte, tadelte seinen Schwager sogleich und wies ihn darauf hin, daß Caitanya Mahāprabhu kein gewöhnlicher Sterblicher sei. Sārvabhauma Bhaṭṭācārya konnte diese Auffassung nicht teilen, und so entspann sich eine hitzige Diskussion zwischen den beiden.
Nach diesem Vorfall bat Sārvabhauma den Herrn, Ihm seine Interpretation des Vedānta-sūtra vortragen zu dürfen, womit Sich Śrī Caitanya taktvoll einverstanden erklärte.
Sieben Tage lang sprach Bhaṭṭācārya ununterbrochen und mit großem Ernst über den Vedānta; dann sagte er: »Kṛṣṇa Caitanya, Du scheinst die Vedānta-Philosophie nicht zu verstehen, denn Du hast bisher noch kein Wort zu meinen Ausführungen und Erklärungen gesagt.« Der Herr entgegnete: »Ich verstehe die sūtras sehr gut, doch die Kommentare Śaṅkarācāyas sind Mir unverständlich.« Sārvabhauma verblüffte diese Antwort, und so sprach er ärgerlich: »Wie kannst Du die Bedeutung der sūtras verstehen, wenn du nicht die Kommentare begreifst, die sie erklären? Nun gut, wenn Du tatsächlich die sūtras verstehst, dann sei bitte so freundlich und laß mich Deine Interpretationen hören! «
Śrī Kṛṣṇa Caitanya erklärte daraufhin alle sūtras auf Seine eigene Weise, ohne dabei den pantheistischen Kommentar Śaṅkarācāryas auch nur zu streifen. Sārvabhauma Bhaṭṭācārya konnte sofort mit seinem scharfen Intellekt die Wahrheit, Schönheit und Harmonie der Erklärungen Caitanyas erkennen und mußte deshalb gestehen, daß dies das erste Mal sei, daß er jemanden gefunden habe, der die Vedānta-sūtras auf solch natürliche Weise erklären konnte. Er sagte auch, daß die Kommentare Śaṅkarācāryas in keiner Weise mit denen von Caitanya an Klarheit zu vergleichen seien. Sārvabhauma Bhaṭṭācārya wurde nach diesem Gespräch zu einem treuen Anhänger des Herrn und wandelte sich innerhalb weniger Tage zu einem der größten Vaiṣṇavas seiner Zeit. Die Nachricht seiner Bekehrung verbreitete sich wie ein Lauffeuer, was zur Folge hatte, daß bald darauf ganz Orissa Śrī Caitanyas Ruhm pries und Tausende von Menschen zu Ihm kamen, um Seine Anhänger zu werden. Währenddessen faßte der Herr den Plan, Südindien zu besuchen, und so machte Er Sich eines Tages in Begleitung des brāhmaṇa Kṛṣṇa dāsa auf die Reise.
Er ging zuerst nach Kurmakṣetra, wo Er das Wunder vollbrachte, den Aussätzigen Vasudeva zu heilen. Am Ufer der Godavarī traf Er Sich mit Rāmānanda Rāya, dem Gouverneur von Vidyanagara, und führte lange philosophische Gespräch mit ihm über premā-bhakti - reine hingebungsvolle Liebe zu Gott. Kurz danach offenbarte Er ein weiteres Wunder, als Er die sieben tal-Bäume berührte und damit augenblicklich zum Verschwinden brachte, durch die Rāmacandra, der Sohn Mahārāja Dāṣarthas, vor langer Zeit einen Pfeil geschossen hatte, der den großen Bali Rāja tötete. Die ganze Zeit über predigte Er, wo immer Sich Ihm eine Gelegenheit bot, Vaiṣṇava-Philosophie und nāma-saṅkīrtana, das Singen der heiligen Namen Gottes.
Als die Regenzeit heranrückte, begab Er Sich nach Rangakṣetra zu einem gewissen Venkata Bhaṭṭa und bekehrte während der vier Monate Seines Aufenthalts die ganze Familie vom Rāmānuja-Vaiṣṇava-Kult zur Kṛṣṇa-bhakti. Unter den Familienmitgliedern befand sich auch Gopāla, ein Junge von zehn Jahren, der später nach Vṛndāvana ging und einer der sechs Gosvāmīs wurde. Gopāla Bhaṭṭa, der von seinem Onkel Prabhodānanda Sarasvatī Sanskrit gelernt hatte, schrieb mehrere Bücher über Vaiṣṇava-Philosophie in dieser Sprache. Nachdem die Regenzeit vorüber war, setzte Caitanya Mahāprabhu Seine Reise fort, die Ihn bis hinunter zum heutigen Kap Komorin führte. Er besuchte viele heilige Orte und kehrte dann nach zwei Jahren über Panderpura nach Purī zurück. In Panderpura gab Er dem Heiligen Tukārāma die spirituelle Einweihung, der daraufhin zu einem der größten Prediger der bhakti-Lehre wurde. Tukārāma beschreibt das transzendentale Treffen mit dem Herrn ausführlich in seinen Abhangas, die später von Satyandra Nath Tagore von der Zivilverwaltung in Bombay in einem besonderen Band zusammengefaßt wurden. Auf Seiner Reise führte der Herr viele Diskussionen mit den Bhuddisten, den Jainas und den Māyāvādīs, bei denen Er alle Seine Gegner zum Vaiṣṇavatum bekehren konnte - zur Verehrung Gottes als Person.
Nachdem Er wieder nach Purī zurückgekehrt war, schlossen sich der König von Orissa, Mahārāja Pratāparudra Deva, und mehrere gelehrte brāhmaṇas Seiner Bewegung an. Caitanya Mahāprabhu war inzwischen siebenundzwanzig Jahre alt.
Ein Jahr später ging Er wieder nach Bengalen, diesmal nach Maldah in Gauḍa, wo Er mit Dabir Khās und Sākara Mallik zusammentraf, zwei Ministern der Regierung Nawab Hussain Schahs. Die beiden Brüder, die ursprünglich aus brāhmaṇa-Familien stammten, waren durch die lange Verbindung mit Hussain Schah, dem damaligen Herrscher von Gauḍa, zu Halb-Mohammedanern geworden. Der Schah hatte ihre Namen in Dabir Khās und Sākara Mallik geändert und liebte die beiden sehr, da sie persisch, arabisch und Sanskrit beherrschten und überdies treue Diener des Staates waren. Dabir Khās und Sākara Mallik, die später als Rūpa und Sanātana Gosvāmī bekannt wurden, hatten keine Möglichkeit gefunden, wieder in die Hindu-Gemeinschaft zurückzukehren, und hatten daher Caitanya Mahāprabhu, während Sich dieser in Purī aufhielt, in einem Brief um spirituelle Hilfe gebeten. Śrī Caitanya hatte ihnen geantwortet, daß Er bald Selbst zu ihnen kommen würde, um ihnen aus ihrer schwierigen Lage zu helfen, und nun, da Er endlich in Gauḍa war, suchten Ihn die beiden Brüder sofort auf und trugen Ihm ihre langgehegten Sorgen vor. Der Herr wies sie an, nach Vṛndāvana zu gehen und dort auf Ihn zu warten.
Anschließend kehrte Er über Śāntipura, wo Er Sich kurz mit Seiner geliebten Mutter traf, nach Purī zurück. Auch hier hielt Er Sich nur kurz auf, um dann in Begleitung von Balabhadra Bhaṭṭācārya nach Vṛndāvana weiterzureisen. Von Vṛndāvana schließlich begab Er Sich nach Prayāga (dem heutigen Allahabad) und bekehrte dort eine große Anzahl von Mohammedanern durch Zitate aus dem Koran zur Vaiṣṇava-Lehre. Die Nachfahren dieser Mohammedaner sind heute als Pathan-Vaiṣṇavas bekannt. In Allahabad stieß auch Rūpa Gosvāmī zu Ihm, den Er bei dieser Gelegenheit zehn Tage lang in spirituellem Wissen unterwies. Danach gab Er ihm den Auftrag, nach Vṛndāvana zu gehen und dort wissenschaftliche Abhandlungen über premā-bhakti (reine Gottesliebe) zu schreiben und die Orte ausfindig zu machen, an denen Kṛṣṇa am Ende des Dvāpara-yuga* Seine līlās, Seine transzendentalen Spiele, zum Segen der gesamten Menschheit offenbarte. Nachdem Rūpa Gosvāmī nach Vṛndāvana aufgebrochen war, reiste Caitanya Mahāprabhu nach Benares weiter, wo Er das Haus von Candraṣekhara als Quartier wählte; Seine tägliche bikṣa (Mahlzeit) nahm Er bei Tapana Miṣra zu Sich. In Benares stieß auch Sanātana Gosvāmī zu Ihm, den Er daraufhin zwei Monate lang in der Vaiṣṇava-Philosophie unterwies.
* Dvāpara-yuga - das dem gegenwärtigen Kali-yuga vorangegangene Zeitalter.
Die verschiedenen Biographen, insbesondere Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī, haben uns die Lehren Śrī Caitanyas an Rūpa und Sanātana Gosvāmī in allen Einzelheiten überliefert. Kṛṣṇadāsa war zwar kein Zeitgenosse Caitanyas, doch erhielt er alle Seine Informationen direkt von den Gosvāmīs, den engsten Schülern des Herrn.
Während Seines Aufenthaltes in Benares wurde Caitanya Mahāprabhu eines Tages in das Haus eines brāhmaṇa eingeladen, bei dem sich alle Māyāvādī-sannyāsīs von Benares zu einem Treffen versammelt hatten. Gleich zu Anfang der Versammlung, die von Prakāṣānanda Sarasvatī, dem Führer der Māyāvādīs, geleitet wurde, offenbarte der Herr ein Wunder, durch das Er alle Anwesenden für Sich einnahm, und in dem darauffolgenden Gespräch überzeugte Er die sannyāsīs davon, daß sie sich von den falschen Kommentaren Śaṅkarācāryas hatten irreführen lassen. Nicht einmal den gebildetsten Gelehrten war es möglich, für längere Zeit gegen Śrī Caitanya standzuhalten, da von Ihm etwas Unerklärliches ausging, das ihre Herzen berührte und in ihnen die Sehnsucht nach spirituellem Fortschritt weckte. Die Māyāvādī-sannyāsīs bildeten keine Ausnahme, sondern fielen Śrī Caitanya schon nach kurzer Zeit zu Füßen und baten Ihn um Seine Barmherzigkeit. In Erwiderung erklärte ihnen der Herr reine bhakti und flößte ihren Herzen spirituelle Liebe zu Kṛṣṇa ein, die sie alle sektiererischen Gefühle vergessen ließ. Als die Einwohner von Benares von der wunderbaren Bekehrung der Māyāvādīs hörten, wurden sie allesamt zu Vaiṣṇavas, und die ganze Stadt hallte wider von gewaltigen saṅkīrtanas, die zu Śrī Caitanyas Ehre stattfanden.
Nachdem der Herr auch Sanātana Gosvāmī nach Vṛndāvana gesandt hatte, kehrte Er durch den Dschungel nach Purī zurück. Sein Gefährte Balabhadra, der ihn auch hier begleitete, berichtet, daß Mahāprabhu unterwegs viele Wunder vollbrachte. So habe Er z. B. Tiger und Elefanten dazu gebracht, den heiligen Namen zu chanten und in Ekstase zu tanzen.
Von dieser Zeit an, d. h. von Seinem einunddreißigsten Lebensjahr an, lebte Śrī Caitanya bei Kāṣī Miṣra in Purī, bis Er mit achtundvierzig Jahren während eines saṅkīrtanas im Tempel von Tota Gopīnātha diese Welt verließ. Die letzten achtzehn Jahre Seines Lebens, die Er in der Mitte Seiner Anhänger verbrachte, waren von gütiger Liebe und Frömmigkeit geprägt. Alle Seine Gefährten waren bedeutende Vaiṣṇavas, die sich von den anderen Menschen insbesondere durch ihren reinen Charakter, durch große Gelehrtheit, feste religiöse Prinzipien und spirituelle Liebe zu Rādhā und Kṛṣṇa unterschieden. Svarūpa-dāmodara, der während der Zeit, als Śrī Caitanya noch in Nadia lebte, als Puruṣottamācārya bekannt war, kam von Benares nach Purī und wurde Sein Sekretär. Alle philosophischen und dichterischen Werke, die Śrī Caitanya gebracht wurden, mußten zuerst von ihm auf Reinheit und Nützlichkeit geprüft werden, bevor sie dem Herrn vorgelegt werden konnten. Zu jener Zeit stieß auch Rāmānanda Rāya, ein anderer großer Gottgeweihter aus Südindien, zu dem Herrn; er und Svarūpa-dāmodara pflegten gemeinsam zu singen, während Caitanya Mahāprabhu bei der Verehrung Kṛṣṇas in Ekstase fiel. Paramānanda Purī war Sein Sekretär für religiöse Angelegenheiten. Von dieser Zeit haben uns die Biographen des Herrn Hunderte von Anekdoten überliefert, die wir an dieser Stelle natürlich nicht wiedergeben können. Mahāprabhu schlief nur wenig. Er widmete Sich ganz der Verehrung Kṛṣṇas, und Sein Streben trug Ihn von Tag zu Tag in immer höhere spirituelle Sphären. Mit Seinen vertrautesten Schülern, den sechs Gosvāmīs in Vṛndāvana, hielt Er engen Kontakt und ließ ihnen so manche Unterweisung zukommen. Während dieser Zeit empfing Er viele religiöse Menschen, die Ihn besuchten, und sprach mit ihnen über Kṛṣṇa-bhakti. Er sang und tanzte und verfiel oftmals in ekstatische Glückseligkeit. Alle, die Ihn sahen, erkannten in Ihm den Ewigen Transzendentalen Gott, der zum Wohl der gesamten gefallenen Menschheit erschienen war. Der Herr blieb Seiner Mutter das ganze Leben hindurch in Liebe zugetan und ließ ihr hin und wieder, wenn die Gottgeweihten nach Nadia gingen, mahā-prasāda (spirituelle Speisen) bringen. Śrī Caitanya wurde von allen geliebt, denn Er war die verkörperte Demut. Niemals versäumte Er es, denen, die Ihn darum baten, Unterweisungen zu geben, und Sein gütiges Wesen richtete jeden auf, der Ihn traf. Seine direkten Nachfolger sind Nityānanda Prabhu, den Er als Missionar für Bengalen einsetzte und die sechs Gosvāmīs von Vṛndāvana, die im Inneren des Landes Liebe zu Gott predigten.
Einleitung
In der Zeit vom 10. bis zum 14. April des Jahres 1967 hielt Seine Göttliche Gnade A. C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda vor den Mitgliedern der Internationalen Gesellschaft für Kṛṣṇa-Bewußtsein in New York fünf Vorlesungen über das Caitanya-caritāmṛta, die von Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī verfaßte Biographie des Śrī Kṛṣṇa Caitanya Mahāprabhu:
»Caitanya« bedeutet »Lebenskraft«. Wir können uns bewegen und Widerstand leisten gegen etwas Unerwünschtes, wohingegen ein Tisch z. B. nicht dazu imstande ist, da in ihm keine »Lebenskraft« existiert. »Carita« wird mit »Charakter« oder »Eigenschaft« übersetzt, und »amṛta« meint »unsterblich, ewig«. »Caitanya-caritāmṛta« bedeutet somit »der ewige Charakter der Lebenskraft.«
In uns wohnt also Lebenskraft - wie sonst könnten wir leben und aktiv sein -, doch mag man sich fragen, wieso die Lebenskraft als »ewig« bezeichnet wird, wenn wir doch alle sterben müssen. Die Antwort lautet: Wir sind Lebenskraft, und wir sind auch ursprünglich, vom Wesen her, unsterblich, doch die materielle Atmosphäre, in der wir uns gegenwärtig befinden, erlaubt es uns nicht, diese Eigenschaft zu entfalten. In der Kaṭha Upaniṣad wird gesagt, daß Ewigsein und Lebendigsein Eigenschaften der Lebewesen wie auch Gottes sind, daß aber dennoch ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Gott und den Lebewesen besteht: Die Lebewesen haben nämlich die Neigung, in die materielle Welt herabzufallen, wohingegen Gott frei von dieser Neigung ist. Gott ist allmächtig. Er gerät niemals unter die Kontrolle der materiellen Natur, die nur eine Seiner unzähligen Energien ist. Ein Beispiel mag dies erläutern: Als ich von San Francisco hierher flog, befanden wir uns die ganze Zeit über der Wolkendecke, wo alles vom Sonnenlicht erhellt wurde, und als wir dann auf dem New Yorker Flughafen landeten, war die Sonne nicht mehr zu sehen, und es regnete. Bedeutet dies aber, daß die Sonne über den Wolken nicht mehr schien? Natürlich nicht. Die Wolken können die Sonne niemals bedecken, sondern nur unsere Sicht. Ebensowenig kann māyā, die illusionierende materielle Energie, Gott bedecken. Nur wir, die winzigen Lebewesen, haben die Neigung, unter ihren Einfluß zu geraten. Die Māyāvādīs, die Anhänger der Unpersönlichkeitslehre, behaupten, weil wir in der materiellen Welt von māyā kontrolliert würden, gerate auch Gott, wenn Er in dieser Welt erscheine, unter die Herrschaft māyās. Das zeigt die Fehlerhaftigkeit ihrer Philosophie.
Śrī Kṛṣṇa Caitanya Mahāprabhu ist kein gewöhnliches Lebewesen. Er ist Kṛṣṇa Selbst, das Höchste Wesen, und Er kann deshalb nicht von der Wolke māyās bedeckt werden. Kṛṣṇa und Seine Erweiterungen und auch Seine reinen Geweihten befinden sich niemals in der Gewalt der illusionierenden Energie. Śrī Caitanya erschien, um Kṛṣṇa-bhakti zu predigen, d. h., Śrī Kṛṣṇa kam Selbst, um uns zu lehren, wie wir uns Kṛṣṇa nähern können. Er gleicht einem Lehrer, der sieht, daß sein Schüler nicht zurechtkommt, und deshalb den Federhalter selbst in die Hand nimmt, um ihm zu zeigen, wie man richtig schreibt: »Sieh, so mußt du es machen - A, B, C, . . .« Der Lehrer schreibt zwar A, B, C . . ., doch es wäre ein Fehler deshalb zu glauben, er selbst müsse das Alphabet lernen. Śrī Kṛṣṇa Caitanya befindet Sich in einer ähnlichen Position. Er erschien, um uns zu lehren, wie wir Kṛṣṇa-bewußt werden können, und mit diesem Verständnis sollten wir Ihn betrachten.
In der Bhagavad-gītā sagt der Herr: »Gib all dein unsinniges Tun auf, und gib dich einfach Mir hin.« Doch wir erwidern: »Hingabe? Alles aufgeben? Aber ich habe doch so viele Verpflichtungen.« Und māyā flüstert uns zu: »Gib dich nicht hin, denn dann entkommst du meinen Schlingen. Bleib in meiner Gewalt, so daß ich dich weiterhin treten kann.« Es ist tatsächlich wahr, wir werden von māyā getreten! Und auf welche Weise? Hierzu gibt es einige anschauliche Beispiele: Wenn der Esel voller Lust zur Eselin kommt und sie bespringen will, tritt sie ihm ins Gesicht. Und die Katzen fauchen sich an und beißen sich, wenn sie sich begegnen. Das sind Lektionen, die uns die Natur erteilt. Māyā ist so gerissen. Selbst ein so mächtiges Tier wie der Elefant, kann auf sehr simple Weise gefangen werden: Man braucht nur eine Elefantenkuh dazu abzurichten, den Elefantenbullen anzulocken und zu einer Fallgrube zu führen; er wird ihr mit Sicherheit folgen und in die Grube stürzen. Māyā steckt voller List und Tücke, und ihre Hauptwaffe ist das weibliche Geschlecht. Natürlich bezieht sich die Bezeichnung »männlich« und »weiblich« nur auf die äußere Hülle, den Körper, denn von unserem Wesen her sind wir alle ewige Diener Kṛṣṇas, doch solange wir uns in der materiellen Welt aufhalten, fesseln uns die Ketten māyās - schöne Frauen. Jeder Mann ist von sexueller Begierde gefesselt, die man aus diesem Grunde beherrschen und unter Kontrolle bringen muß. - Ungezügelte Sexualität liefert uns völlig der Gewalt māyās aus. Śrī Caitanya entkam māyā mit vierundzwanzig Jahren. Obwohl Seine Frau erst sechzehn Jahre alt war und Seine Mutter siebzig und die beiden niemanden außer Ihm hatten, der für sie sorgte, nahm Er einfach sannyāsa an und trat in die Lebensstufe der Entsagung ein, ohne Sich weiter um māyā in Form von Frau und Mutter zu kümmern.
Wenn man Kṛṣṇa-bewußt werden will, muß man māyās Ketten sprengen oder zumindest - wenn man mit māyā zusammenbleibt - in solcher Weise leben, daß man frei von Illusion ist. Unter den engsten Gefährten Caitanya Mahāprabhus befanden sich viele Familienväter, die vom Herrn ebenso anerkannt und behandelt wurden wie z. B. die sannyāsīs. Einmal sogar, als Śrī Caitanya erfuhr, daß die Frau eines Seiner liebsten Haushälter-Geweihten schwanger war, bat Er diesen, dem Kind einen bestimmten, glückverheißenden Namen zu geben. Caitanya billigte also durchaus ein Leben als Haushälter, wenn dieses, vor allem in bezug auf Sexualität, reguliert und nach den Unterweisungen der Schriften geführt wurde. Aber Er war strikt und unnachgiebig gegenüber den sannyāsīs, d. h. den in Entsagung Lebenden, die sich und andere auf eine Weise betrogen, die man ironisch als »einen Schluck Wasser unter Wasser trinken, während man an einem Fasttag ein Bad nimmt« bezeichnet. Das beste Beispiel hierfür ist Choṭa Haridāsa, einer der engsten Vertrauten Śrī Caitanyas, der einmal einem jungen Mädchen lustvolle Blicke zuwarf. Caitanya Mahāprabhu bemerkte dies, und schloß ihn sogleich aus der Gemeinschaft Seiner vertrauten Geweihten aus; zur Begründung sagte Er: »Du lebst mit Mir als sannyāsī zusammen und wagst es dennoch, eine Frau lustvoll anzuschauen. Aus Verzweiflung über Seine Trennung von dem Herrn beging Choṭa Haridāsa später Selbstmord. Einige seiner Gefährten hatten den Herrn zuvor mehrmals gebeten, Choṭa Haridāsa zu vergeben, doch Śrī Caitanya hatte erwidert: »Um Meinetwillen könnt ihr zu ihm gehen und ihm vergeben; Ich bleibe hier - wenn es sein muß, allein.« Und als Er vom Tod des gefallenen sannyāsī hörte, sagte Er nur: »Sehr gut, das ist das beste für ihn.«
Aus dem Caitanya-caritāmṛta erfahren wir, daß Kṛṣṇa als Śrī Caitanya die Menschen lehrte, ihre Unsterblichkeit wiederzuerlangen. Zu allen Zeiten verkündet Er diese Wahrheit, weil er die Menschen bemitleidet, die stets darum kämpfen, ihr zeitweiliges Leben zu verlängern, statt zu versuchen, in ihr ursprüngliches ewiges Leben in der spirituellen Welt zurückzukehren.
»Caitanya-caritāmṛta« bedeutet, wie wir schon wissen, »der unsterbliche Charakter der Lebenskraft.« Die höchste Lebenskraft ist der Höchste Persönliche Gott. Wir, die Lebewesen, sind ebenfalls Lebenskraft, doch sind wir nur winzige Teile des höchsten Lebewesens. Da wir individuelle Personen sind, verschieden in Gedanken und Wünschen, ist leicht einzusehen, daß unser Ursprung, die höchste Lebenskraft, ebenfalls eine individuelle Person ist. - Doch im Unterschied zu uns ist Er der Höchste, der Führer aller anderen. Unter uns Menschen gibt es immer jemanden, der über dem anderen steht, doch den Höchsten kann niemand übertreffen, noch kommt Ihm jemand gleich.
Einer von Kṛṣṇas Namen ist »Acyuta« - »der Unfehlbare«. Sogar der mächtige Arjuna unterlag auf dem Schlachtfeld von Kurukṣetra einer Täuschung, doch Kṛṣṇa war auch dort frei von aller Illusion. Gott ist also unfehlbar. In der Bhagavad-gītā sagt Er Selbst: »Ich erscheine in Meiner ursprünglichen transzendentalen Gestalt.« Er gerät demnach nicht unter den Einfluß der materiellen Natur, wenn Er in der materiellen Welt erscheint; Kṛṣṇa und Seine Erweiterungen werden niemals von der materiellen Energie bedeckt - Sie sind ewiglich frei. Im Śrīmad-Bhāgavatam findet man daher folgende Definition der göttlichen Natur: »Wer in der göttlichen Natur verankert ist, bleibt immer unberührt von māyā - - selbst in der materiellen Welt.« Diese Ebene kann auch ein Gottgeweihter erreichen. Rūpa Gosvāmī erklärte einmal, daß man nur dann unbeeinflußt von der materiellen Verunreinigung bleiben könne, wenn man die Neigung entwickle, sich ständig im Dienste Kṛṣṇas zu beschäftigen. Und wie kann man Kṛṣṇa dienen? Es ist gewiß nicht allein mit Meditation getan, da dies nur eine Aktivität des Geistes ist. - Man muß schon etwas Praktisches für Kṛṣṇa tun; mit anderen Worten: Man muß aktiv sein. Für Kṛṣṇas Dienst sollte man alle Möglichkeiten ausschöpfen. Wir können alles benutzen: Autos, Flugzeuge, ja sogar die Atombombe. Was immer vorhanden ist, welche Fähigkeiten man auch besitzt, - alles sollte in Kṛṣṇas Dienst gestellt werden. Wenn jemand zu anderen über Kṛṣṇa-Bewußtsein spricht, so ist auch das ein Dienst für Kṛṣṇa. Wenn schließlich Geist, Sinne, Worte, Geld und Energie für den Höchsten verwandt werden, steht man nicht mehr unter dem Einfluß der materiellen Natur. Kṛṣṇa, Seine Erweiterungen und auch Seine Geweihten sind unberührt von der materiellen Energie.
»Caitanya-caritāmṛta« bedeutet sowohl, daß die spirituelle Seele unsterblich ist, als auch, daß die Tätigkeiten in der spirituellen Welt unvergänglich sind. Die Māyāvādīs, nach deren Ansicht die Absolute Wahrheit unpersönlich und formlos ist, behaupten, die selbstverwirklichte Seele spreche nicht mehr. Die Vaiṣṇavas jedoch sagen: »Sprechen beginnt erst mit Selbstverwirklichung. Bisher war alles was wir sagten, unsinnig und wertlos; laßt uns nun endlich wirkliche Gespräche führen - Gespräche über Kṛṣṇa.«
Die Māyāvādīs geben, um ihre Behauptung zu erhärten, folgendes Beispiel: »Wenn man gegen einen leeren Wasserkrug schlägt, klingt er hohl, doch der gleiche Krug gibt, wenn er mit Wasser gefüllt ist, keinen Ton mehr von sich.« Aber bin ich etwa ein Wasserkrug? Kann man ein Lebewesen mit einem Krug vergleichen? Der Sinn einer Analogie liegt darin, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, und je mehr Parallelen zwischen zwei Objekten gezogen werden, desto besser die Analogie. Die Analogie der Māyāvādīs jedoch ist völlig irrelevant, denn ein Wasserkrug ist, wie jeder weiß, keine aktive, lebendige Kraft. Die stille Meditation der Māyāvādīs ist also unzulänglich. Warum? Weil es so viel über Kṛṣṇa zu sagen gibt, daß vierundzwanzig Stunden am Tag nicht dafür ausreichen. Ein Tor bleibt so lange unentdeckt, wie er nicht spricht, doch sobald er den Mund aufmacht, wird seine Unwissenheit offenbar. Der Caitanya-caritāmṛta macht dagegen darauf aufmerksam, daß es für uns noch so viele Dinge zu entdecken gibt, mit denen man den Höchsten preisen kann.
Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī, der Autor des Caitanya-caritāmṛta, schreibt zu Beginn seines großen Werkes: »Ich erweise allen geistigen Meistern meine respektvollen Ehrerbietungen.« Er gebraucht absichtlich die Pluralform, um damit auszudrücken, daß er die ganze Nachfolge der geistigen Meister meint - nicht nur seinen eigenen. Danach bringt er allen Gottgeweihten seine Ehrerbietungen dar, dann den Erweiterungen Gottes und schließlich der ersten Manifestation Seiner Energie. Śrī Kṛṣṇa Caitanya vereinigt alle diese Aspekte in Sich: Er ist Gott, guru, Gottgeweihter und Erweiterung zugleich; Nityānanda ist Seine Manifestation als guru, Advaita Prabhu ist Seine erste Inkarnation; Gadādhara ist Seine innere Energie und Śrīvāsa ist das im Zwischenbereich liegende Lebewesen. Śrī Kṛṣṇa wird niemals allein gesehen, sondern immer in Begleitung Seiner Erweiterungen, Energien usw. Rāmānujācārya erklärt hierzu: Die ṣuddhādvaita-Philosophie besagt, daß Gottes Energien, Erweiterungen und Inkarnation gleichzeitig eins und verschieden sind. Alles zusammen ist in Gott.
Der Caitanya-caritāmṛta ist für die im spirituellen Wissen weiter Fortgeschrittenen bestimmt. Im allgemeinen wird nämlich empfohlen, zuerst die Bhagavad-gītā zu studieren, dann das Śrīmad-Bhāgavatam und erst dann den Caitanya-caritāmṛta. Obwohl sich alle diese Schriften auf der absoluten Ebene befinden, gibt es doch gewisse Abstufungen, und so läßt sich bei einem vergleichenden Studium leicht feststellen, daß der Caitanya-caritāmṛta mit seinen vollendeten Versen auf der höchsten Stufe steht.
Śrī Kṛṣṇa Caitanya und Nityānanda Prabhu werden mit der Sonne und dem Mond verglichen, die in diesem Falle zur gleichen Zeit aufgegangen sind und in ihrer Güte die Finsternis der Unwissenheit lichten.
Doch wer ist Śrī Kṛṣṇa Caitanya nun eigentlich? In den Upaniṣaden wird die Absolute Wahrheit meistenteils im unpersönlichen Aspekt beschrieben, aber in der Īṣopaniṣad finden wir im 18. mantra folgendes Gebet: »O Herr, Deine wahre Gestalt ist verborgen hinter der leuchtenden Umhüllung des brahmajyoti. Laß mich dieses brahmajyoti durchdringen und mich Dir nähern.« Die Absolute Wahrheit ist also letzten Endes Person, und das unpersönliche brahmajyoti ist die leuchtende Ausstrahlung, die vom Körper dieser Höchsten Person ausgeht. Śrī Kṛṣṇa Caitanya ist mit dieser Höchsten Person identisch; Er ist der Höchste Persönliche Gott Kṛṣṇa, der alle sechs transzendentalen Füllen besitzt: Reichtum, Ruhm, Stärke, Schönheit, Wissen und Entsagung. Niemand kommt Ihm gleich oder ist größer als Er, und es gibt keine Wahrheit über Ihm.
Śrīla Rūpa Gosvāmī, einer der vertrautesten Geweihten Śrī Caitanyas, verfaßte folgenden wunderbaren Vers: »Śrī Kṛṣṇa ist in vielen Inkarnationen erschienen, doch Śrī Caitanya übertrifft sie alle. Er gibt etwas, was keine Inkarnation vor Ihm, nicht einmal Kṛṣṇa Selbst, gab.«
Caitanya Mahāprabhus Lehren beginnen an dem Punkt, an dem das Lebewesen bereit ist, sich Gott hinzugeben, und deshalb befinden sich Seine Unterweisungen von Anfang an auf der spirituellen Ebene.
Auf dieser Stufe hat das Lebewesen sein materielles Dasein bereits beendet und jegliche materielle Anhaftung aufgegeben. In der Bhagavad-gītā beginnt Kṛṣṇa mit dem Unterschied zwischen Seele und Materie und endet mit Hingabe. Hier hört man jedoch nicht auf zu sprechen, wie es die Māyāvādīs irrtümlich annehmen. - Ganz im Gegenteil, im befreiten Zustand beginnt erst wirkliches Sprechen. Im Vedānta-sūtra heißt es dazu: »Jetzt ist die Zeit zum Sprechen gekommen, denn jetzt endlich können wir nach der Absoluten Wahrheit fragen.« Śrīla Rūpa Gosvāmī schrieb weiter über Caitanya Mahāprabhu: »Du bist die barmherzigste aller Inkarnationen, denn Du verschenkst an jeden reine Liebe zu Kṛṣṇa durch hingebungsvolles Dienen.«
Wenn jemand die Existenz des allmächtigen Gottes anerkennt, hat er den ersten Schritt auf dem Pfad des hingebungsvollen Dienens getan, denn die Erkenntnis »Gott ist groß« ist immerhin etwas wert, - wenn auch nicht sehr viel. Eine weitaus höhere Stufe ist die freundschaftliche Beziehung. Durch Śrī Caitanyas Barmherzigkeit kann man Kṛṣṇas Freund werden. Und nicht nur das - Er ermöglicht es uns sogar, eine elterliche Beziehung zum Höchsten Herrn aufzunehmen. Genaueres darüber erfährt man im Śrīmad-Bhāgavatam. Diese Schrift ist die einzige auf der Welt, die Gott als Sohn des Gottgeweihten beschreibt. Gewöhnlich wird Gott als der gütige Vater angesehen, der die Wünsche Seiner Söhne erfüllt, doch Śrī Caitanya lehrt, daß man Gott auch als Sohn behandeln kann. Wie ist dies möglich? Durch Dienen! Gott wünscht Sich etwas, und der Gottgeweihte erfüllt Ihm den Wunsch. Der Gottgeweihte läßt sich also in diesem Falle nicht von Gott versorgen, sondern sorgt vielmehr für Gott. So sagte Yaṣodā, Kṛṣṇas Mutter, einmal, als sie den Herrn fütterte: »Hier, iß schön - sonst wirst Du noch verhungern.« Als Sohn fühlt Sich Kṛṣṇa ganz von der Barmherzigkeit des Gottgeweihten abhängig. So erhaben und wunderbar ist diese Beziehung zu Gott! Darüber noch steht die Beziehung als Geliebte. In diesem vertrauten Liebesverhältnis können die Gottgeweihten eine solch tiefe Zuneigung für Kṛṣṇa empfinden, daß der Herr Sich außerstande fühlt, ihre Liebe in entsprechendem Maße zu erwidern. Die gopīs z. B. befinden sich auf dieser höchsten Stufe der Liebe zu Gott, und sie sind Kṛṣṇa so hingegeben, daß Er manchmal bekennen muß: »Ich weiß nicht, wie Ich eure Liebe erwidern soll; Ich besitze nichts Vergleichbares, das Ich euch geben könnte.« Hingebungsvolles Dienen ist so einzigartig - und diesen Vorgang lehrte Śrī Kṛṣṇa Caitanya. Keine Inkarnation und kein ācārya (geistiger Meister) vor Ihm lehrte, wie man diese innige Liebe zu Gott auf solch einfache Weise entwickeln kann. Deshalb betet Śrīla Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī: »O Śrī Kṛṣṇa Caitanya, hingebungsvolles Dienen stellt die höchste Vollkommenheit des Lebens dar, und Du hast uns damit gesegnet. Du bist Kṛṣṇa in Seiner goldenen Erscheinung als Śacīnandana, der Sohn Śacī-devīs. Mögen Dich die Leser des Caitanyacaritāmṛta immer in ihren Herzen bewahren, denn so wird es ein leichtes für sie sein, Kṛṣṇa durch Deine Barmherzigkeit zu erkennen.« Śrīla Rūpa Gosvāmī betete: »Du bist die großmütigste Persönlichkeit Gottes, denn Du verschenkst Kṛṣṇa-premā reine Liebe zu Kṛṣṇa, und deshalb bringe ich Dir meine demütigen Ehrerbietungen dar. «
Jeder kennt den Ausdruck »Liebe zu Gott«. Wie weit diese Liebe zu Gott entwickelt werden kann, können wir nur durch die Vaiṣṇava-Philosophie erfahren. Theoretisches Wissen von Gottesliebe findet man in vielen Schriften, aber wie diese Liebe zu Gott konkret aussieht, und wie man sie erlangt - das kann man nur aus den Schriften der Vaiṣṇavas lernen.
Caitanya Mahāprabhu lehrt uns, wie wir die höchste Stufe der Gottesliebe erreichen können. Die Liebe, die wir im materiellen Leben kennen, ist in ihrer ursprünglichen, reinen Form Liebe zu Gott. Alles, was wir kennen - auch im bedingten Leben -, befindet sich im Höchsten Herrn, dem Ursprung aller Dinge. In unserer wesenseigenen Beziehung zu Ihm gibt es daher auch Liebe, doch im materiellen Dasein wird diese reine Liebe verzerrt gespiegelt. Wirkliche Liebe ist ewig, ohne Unterbrechung, wohingegen die pervertierte Liebe in der materiellen Welt schwankend und vergänglich ist. Wenn wir uns daher nach wirklicher, transzendentaler Liebe sehnen, sollten wir unsere Zuneigung auf das Höchste Liebenswerte Objekt richten - auf Kṛṣṇa, den Höchsten Persönlichen Gott. Das ist das grundlegende Prinzip des Kṛṣṇa-Bewußtseins. Im materiellen Bewußtsein versuchen wir, etwas zu lieben, was nicht im geringsten unserer Liebe wert ist. Manche Menschen schenken z. B. ihre ganze Zuneigung Hunden und Katzen - und laufen dabei Gefahr, zur Stunde des Todes an sie zu denken und deshalb in einer Familie von Hunden oder Katzen wiedergeboren zu werden. Wenn unsere Liebe also nicht auf Kṛṣṇa gerichtet ist, führt sie uns in niedere Bereiche des Daseins. In den Schriften der Hindus wird großer Wert auf die Keuschheit der Frau gelegt, denn eine Frau, die ihren Mann sehr liebt und in der Todesstunde an ihn denkt, erhält in ihrem nächsten Leben den Körper eines Mannes. Das Leben im Körper eines Mannes ist wesentlich vorteilhafter als das im Körper einer Frau, da ein Mann bessere Möglichkeiten hat, die spirituelle Wissenschaft zu verstehen. Im Kṛṣṇa-Bewußtsein indessen wird kein Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht, denn es ist völlig transzendental. Kṛṣṇa Selbst sagt in der Bhagavad-gītā: »Auch wenn jemand von niedriger Herkunft ist, wie eine Frau, ein vaiṣya oder ein ṣūdra, kann er Mich erreichen, wenn er bei Mir Zuflucht sucht.« Das ist Sein Versprechen. Und Er sagt weiter: »Wenn schon diese Menschen die höchste Vollkommenheit erlangen können, wieviel eher dann die brāhmaṇas, die Gottgeweihten und die heiligen Könige! Sie werden mit Sicherheit das höchste Ziel erreichen.«
Śrī Caitanya Mahāprabhu erklärte, daß es in jedem Land und in jeder heiligen Schrift Hinweise auf Gottesliebe gebe, daß aber dennoch niemand so recht wisse, was Liebe zu Gott eigentlich bedeute. In diesem Punkt unterscheiden sich die Veden von allen anderen Schriften: In den Veden wird die Liebe zu Gott wissenschaftlich genau beschrieben und analysiert, wohingegen in allen anderen heiligen Schriften nur eine verschwommene Vorstellung von Gottesliebe gegeben wird. Wie diese Liebe aussieht und was Gott ist - darauf wird nicht eingegangen. Es bleibt bei allgemeinen Aussagen. Śrī Caitanya jedoch lehrt an Seinem eigenen Beispiel, wie vertraute Liebe zu Gott beschaffen ist. Er spielt die Rolle Rādhārāṇīs und versucht, Kṛṣṇa ebenso wie Rādhārāṇī zu lieben. Kṛṣṇa konnte nämlich nicht begreifen, warum Rādhārāṇī Ihn so sehr liebte, und so versetzte Er Sich in Ihre Lage und versuchte, Sich Selbst zu verstehen. Das ist das Geheimnis, das sich hinter dem Erscheinen Śrī Caitanyas verbirgt. Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī betet daher als nächstes: »Ich erweise dem Höchsten Herrn, der in das Wesen Rādhārāṇīs versunken ist, meine respektvollen Ehrerbietungen.« Śrī Kṛṣṇa Caitanya ist Kṛṣṇa Selbst, der Rādhās Wesen angenommen hat, um zu zeigen, wie man Kṛṣṇa lieben soll. »Rādhā-Kṛṣṇa« meint den Austausch transzendentaler Liebe. Die Beziehung zwischen Rādhā und Kṛṣṇa ist nicht mit einer gewöhnlichen Liebesbeziehung, wie wir sie kennen, zu vergleichen.
Kṛṣṇa besitzt unermeßliche Energien, von denen drei primär sind: die innere, die mittlere und die äußere Energie. Die innere Energie ist wieder dreifach unterteilt: in saṁvit, hlādinī und sandhinī. Die hlādinī-Energie ist die Freuden-Energie Kṛṣṇas. Auch wir besitzen diese Freuden-Energie, und deshalb sucht jeder von uns ständig nach Freude - das ist die Natur des Lebewesens. Doch weil wir uns gegenwärtig in der materiellen Welt befinden, versuchen wir, diese Freude auf der körperlichen Ebene durch körperliche Berührung, d. h. mit Hilfe der materiellen Sinne, zu erfahren. Man muß sich jedoch vor der irrtümlichen Annahme hüten, daß Kṛṣṇa, der ganz und gar spirituell ist, ebenfalls auf der materiellen Ebene nach Freude suche. Das ist eine völlig unsinnige Vorstellung. Kṛṣṇa beschreibt diese Welt als vergänglich und voller Leiden. Warum sollte Er also in einem materiellen Körper nach Freude suchen? Er ist die Überseele, Er ist das Höchste Spirituelle Wesen; wie könnte Er nach Freude in der materiellen Welt begehren?
Um zu verstehen, auf welche Weise Kṛṣṇa Freude erfährt, muß man zunächst einmal die ersten neun Cantos des Śrīmad-Bhāgavatam studieren. Im Zehnten Canto wird dann beschrieben, wie Kṛṣṇa Seine Freuden-Energie entfaltet, indem Er sich mit Rādhārāṇī und den Mädchen von Vraja in transzendentalen Spielen vergnügt. Unglücklicherweise befassen sich törichte Menschen ohne Vorbereitung direkt mit diesem vertraulichsten Canto, ohne zuvor Kṛṣṇa und Seine Energien studiert zu haben. Wenn solche Menschen die Darstellungen von Kṛṣṇa und Rādhārāṇī, die sich liebevoll umarmen, oder die Beschreibung des rāsa-Tanzes erfahren, können sie natürlich nichts damit anfangen, weil sie Kṛṣṇa nicht verstehen. In ihrer Dummheit halten sie den Höchsten Herrn für einen gewöhnlichen Menschen und denken, wenn Er die gopīs umarme, sei dies das gleiche, wie wenn wir ein Mädchen in den Arm nehmen. Aufgrund solcher Irrtümer glauben sie sogar, Kṛṣṇa-Bewußtsein sei eine Religion, in der man der Sexualität frönen und dabei ein religiöser Mensch werden könne. Solchen Pseudo-Gottgeweihten mangelt es an jeglicher Spiritualität. - Sie werden prākṛta-sahajiyā genannt - Menschen, die unter dem Einfluß materialistischer Sinnenlust stehen.
Wie aber ist nun die Beziehung zwischen Rādhā und Kṛṣṇa richtig zu verstehen? Der liebevolle Austausch zwischen Rādhā und Kṛṣṇa ist eine Manifestation der Freudenkraft von Kṛṣṇas innerer Energie. Diese Freudenkraft ist jedoch ein außerordentlich schwieriges Thema, solange man nicht weiß, wer Kṛṣṇa eigentlich ist. Daher ist eine kurze Erläuterung an dieser Stelle gewiß angebracht: Wir müssen uns als erstes darüber bewußt werden, daß Kṛṣṇa niemals in der materiellen Welt nach Freude sucht. - Er besitzt alle Freudenkraft in Sich Selbst. Als Seine Teile besitzen auch wir Freudenkraft, doch da wir unter dem Einfluß von Unwissenheit stehen, versuchen wir, Freude durch den Genuß von Materie zu erfahren. Kṛṣṇas Freude aber ist Rādhārāṇī, d. h., Kṛṣṇa entfaltet Seine Kraft oder Energie als Rādhārāṇī und tauscht dann mit Ihr liebevolle Empfindungen aus. Anders ausgedrückt: Kṛṣṇa manifestiert Seine innere Energie, Seine Freudenkraft, in der Gestalt von Rādhārāṇī und erfreut Sich dann an Ihr. Das heißt, Kṛṣṇa manifestiert Sich Selbst als Rādhā. Von Ihm gehen so viele Erweiterungen, so viele Manifestationen aus - und Rādhārāṇī ist die Manifestation Seiner inneren Freudenkraft.
Rādhā ist Kṛṣṇa. - Denn es besteht kein Unterschied zwischen der Energie und dem Energieursprung. Ohne Energie kann es keinen Energieursprung geben und ohne Energieursprung keine Energie. Ebenso kann es ohne Rādhā keinen Kṛṣṇa geben und ohne Kṛṣṇa keine Rādhā. Deshalb wenden sich die Vaiṣṇavas in ihren Gebeten immer zuerst an die innere Freudenkraft des Höchsten Herrn: »Rādhā-Kṛṣṇa«. Diejenigen unter ihnen, die Nārāyaṇa verehren, wenden sich zuerst an Lakṣmī, und die Geweihten Rāmas rufen erst Sītā an: »Sītā-Rāma«, »Lakṣmī-Nārāyana«, »Rādhā-Kṛṣṇa«.
Rādhā und Kṛṣṇa sind also eins. Und als Kṛṣṇa Sich erfreuen wollte, manifestierte Er Sich als Rādhā. Die transzendentalen Liebesspiele von Rādhā und Kṛṣṇa sind eine Entfaltung der inneren Energie, d. h. der Freudenkraft Kṛṣṇas. Wir sagen »als« Kṛṣṇa Sich erfreuen wollte, obwohl man in Verbindung mit Kṛṣṇa eigentlich nicht von Zeit sprechen kann. Wir müssen uns jedoch so ausdrücken, weil im bedingten Leben alles einen Anfang hat. Im absoluten, spirituellen Leben hingegen gibt es keinen Anfang und kein Ende. Wenn wir also verstehen wollen, daß Rādhā und Kṛṣṇa eins sind, und daß Sie zu zwei wurden, müssen wir fragen: »Wann?« - Die Antwort lautet: »Als Kṛṣṇa Sich an Seiner Freudenkraft erfreuen wollte, manifestierte Er Sich als Rādhārāṇī.« Und dann, als Kṛṣṇa Sich mit den Augen Rādhās sehen und Sich so verstehen wollte, vereinigten Sich beide wieder. - Diese Vereinigung ist Śrī Kṛṣṇa Caitanya.
Kṛṣṇa hatte Sich gefragt: »Warum liebt Rādhārāṇī Mich so unermeßlich? Was ist nur der Grund, daß Sie Sich so stark zu Mir hingezogen fühlt? Und welche Empfindungen hat Sie Mir gegenüber?« Wir mögen nun einwenden: » Kṛṣṇa ist doch der Höchste; Er ist vollkommen in Sich Selbst - warum sollte Er Sich zur Liebe Rādhārāṇīs hingezogen fühlen?« Wir sehnen uns nur deshalb danach, von einer Frau geliebt zu werden, weil wir unvollkommen sind - die Liebe einer Frau, diese Kraft, diese Freude fehlt uns; deshalb sehnen wir uns nach ihrer Gemeinschaft. Doch bei Kṛṣṇa ist dies etwas anderes; Er ist einfach überrascht: »Warum fühlt Sich Rādhārāṇī so sehr zu Mir hingezogen? Was ist so einzigartig an Mir, daß Rādhārāṇī so an Mir hängt? Und was empfindet Sie, wenn Ich Ihre Zuneigung erwidere?« Um daher den Geschmack, die Eigenschaft und die Essenz des liebevollen Austausches zwischen Rādhā und Sich zu kosten, erschien Kṛṣṇa wie der Mond aus dem Meer.
Gleich dem Mond, der aus dem schäumenden Meer aufsteigt, ging Kṛṣṇa als Caitanya Mahāprabhu, dessen Gestalt wie der Mond glänzt, aus der aufschäumenden Liebe zwischen Rādhā und Kṛṣṇa hervor.
Der Autor des Caitanya-caritāmṛta beschreibt als nächstes Nityānanda und erweist Ihm seine Ehrerbietungen. Nityānanda ist eine Manifestation Balarāmas, der ersten Erweiterung Kṛṣṇas. Wenn wir »Hare Kṛṣṇa, Hare Rāma« chanten, so ist mit diesem »Rāma« Balarāma, Nityānanda gemeint. Kṛṣṇa erweitert Sich in unzählige Formen - von Balarāma zu Saṅkarṣaṇa, von Saṅkarṣaṇa zu Pradyumna, von Pradyumna zu Aniruddha usw. Wie eine Kerze an einer anderen angezündet wird, so geht eine Erweiterung aus der anderen hervor. In der Brahmasaṁhitā wird dazu erklärt: »Der Höchste Herr, Govinda (Kṛṣṇa), ist »die ursprüngliche Kerze«, und von dieser »urersten Kerze« gehen alle andern »Kerzen« aus, die »Viṣṇu-tattva« genannt werden.« Auch wir sind »Kerzen«, die Kṛṣṇa »entzündete«, denn alles Existierende findet seinen Ursprung in Kṛṣṇa. Doch sind wir im Vergleich zu Viṣṇu, »der großen Kerze«, winzig klein.
Um die materielle Welt zu erschaffen, erweitert Sich Kṛṣṇa als Mahā-Viṣṇu und legt Sich in den Kāraṇa-Ozean, den Ozean der Ursachen. Wenn Er ausatmet, gehen unzählige Universen aus Ihm hervor und schweben dann wie Luftblasen im Ozean der Ursachen. Als Vāmanadeva, eine Inkarnation Kṛṣṇas, einmal mit einem Schritt den gesamten Weltenraum durchmaß und dabei mit Seinem großen Zeh die Ummantelung des Universums durchstieß, tropfte ein wenig Wasser aus dem Ozean der Ursachen durch das Loch und bildete den Ganges. Der Ganges wird deshalb auch als »das heilige Wasser Viṣṇus« bezeichnet, und noch heute verehren die Hindus diesen Fluß - vom Himalaya bis hinunter zum Golf von Bengalen.
Der Verfasser des Caitanya-caritāmṛta beschreibt dann, was sich jenseits der kosmischen Schöpfung befindet. Die kosmische Schöpfung, die materielle Welt, wird »māyā« (Illusion) genannt, weil sie nicht ewig ist. Sie ist manchmal manifestiert und manchmal unmanifestiert. Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī will von dem sprechen, was jenseits von ihr ist. In der Bhagavad-gītā wird im Achten Kapitel erklärt, daß es noch eine andere Natur gibt, die ewig ist, jenseits von vyakta und avyakta, von manifestiert und unmanifestiert. Die materielle Welt befindet sich entweder im manifestierten oder im potentiellen, nicht manifestierten Zustand; doch die andere, höhere Natur, die spirituelle Welt, ist nicht einem solchen Wechsel unterworfen; sie ist unwandelbar und ewig. Wir können uns eine Vorstellung von der höheren Natur machen, wenn wir ihre Wirkungsweise in der materiellen Welt beobachten und verstehen. Die höhere Natur ist in der materiellen Schöpfung als Lebenskraft sichtbar. Unser Körper z. B. besteht aus toter Materie und ist an sich leblos, doch bewegt er sich, weil die Lebenskraft, die Seele, in ihm gegenwärtig ist. Die gesamte kosmische Manifestation ist im Grunde statisch, doch ist sie jetzt in Bewegung, weil sie von der höheren Natur, der spirituellen Energie, manipuliert wird. Das Symptom der höheren Natur ist Bewußtsein. In der spirituellen Welt, die ganz und gar von höherer Natur ist, ist daher alles bewußt. Wir können uns das nicht vorstellen, aber dort sind die Steine bewußt, das Land ist bewußt, die Bäume sind bewußt - alles in der transzendentalen Welt hat Bewußtsein.
Wir haben nicht einmal eine Vorstellung davon, wie groß das Universum ist, in dem wir leben. Es übersteigt unsere Berechnungen und Messungen, die nur mit unvollkommenen Mitteln vorgenommen werden können und ohnehin auf Annahmen beruhen. Doch aus dem Caitanya-caritāmṛta erfahren wir sogar von einer Welt, die jenseits der uns bereits unbegreiflichen materiellen Schöpfung liegt. Diejenigen, die an experimentelle Erkenntnis glauben, werden erstaunt fragen: »Wie ist das möglich? Wir können nicht einmal die Größe des Universums ermessen oder die Anzahl der Planeten und Sterne bestimmen, und ihr wollt von einer Welt Kenntnis haben, die jenseits des Universums liegt?« Unsere Antwort lautet: »Ja. Das, was sich jenseits unseres Begriffsvermögens befindet, wird »acintya« (unbegreiflich) genannt. Über etwas Unbegreifliches läßt sich nicht argumentieren, denn wie könnte man etwas durch Argumentation und Logik erfassen, das sich unserer begrenzten Sinnenwahrnehmung, unserem begrenzten Verstandesvermögen entzieht? Das ist nicht möglich.« Aber wie kann man dann etwas darüber erfahren? - Indem man von denen, die die Wahrheit kennen, das Wissen hört und es einfach annimmt! In der Bhagavad-gītā wird erklärt: »Transzendentales Wissen muß von der Nachfolge der geistigen Meister empfangen werden.« Selbst Brahmā, das erste Geschöpf, erhielt auf diese Weise Kenntnis von der spirituellen Welt. Er wurde von Kṛṣṇa persönlich unterwiesen und gab dann das, was er gehört hatte, an seinen Schüler Nārada weiter, der wiederum Vyāsadeva belehrte. Vyāsadeva erleuchtete Madhva; von Madhva kam das Wissen herunter zu Mādhavendra Purī; Mādhavendra Purī gab es an Īṣvara Purī weiter, und Īṣvara Purī unterwies Caitanya Mahāprabhu darin. Man mag sich nun fragen: Wenn Caitanya Mahāprabhu Kṛṣṇa Selbst ist, warum brauchte Er dann einen geistigen Meister? - Nun, natürlich benötigte Er keinen geistigen Meister, doch weil Er die Rolle eines ācārya spielte und als solcher lehren wollte, wie man ein spirituelles Leben führt, nahm auch Er einen geistigen Meister an. Selbst Kṛṣṇa »lernte« , als Er vor 5000 Jahren auf der Erde erschien, von einem geistigen Meister. Das ist das autorisierte System, wirkliches Wissen zu empfangen. Wenn man etwas über das Unbegreifliche wissen will, muß man sich an einen geistigen Meister wenden, der einer anerkannten Nachfolge von geistigen Meistern angehört. Weil das Wissen ursprünglich vom Höchsten offenbart und dann in einer lückenlosen Folge von Meistern und Schülern überliefert wurde, ist es vollkommen. Nehmen wir einmal an, einer unserer Väter vertraute seinem Sohn ein Geheimnis an, das daraufhin wortgetreu von Generation zu Generation überliefert wurde, bis es schließlich uns erreichte. - Sind wir dann nicht im Besitz der gleichen Wahrheit, obwohl diese vor Hunderten von Jahren offenbart wurde und wir keine direkte Verbindung mehr zum ursprünglichen Sprecher haben?
Auf welche Weise Brahmā das vedische Wissen empfing, wird im Śrīmad-Bhāgavatam berichtet: Kṛṣṇa, die Höchste Absolute Wahrheit, der Ursprüngliche Persönliche Gott, offenbarte Brahmā transzendentales Wissen durch dessen Herz. Es gibt zwei Wege, Wissen zu empfangen: einmal vom Höchsten Persönlichen Gott direkt, der als Überseele im Herzen eines jeden Lebewesens gegenwärtig ist, und zum anderen vom geistigen Meister, der als äußere Manifestation der Überseele Unterweisungen gibt.
Spirituelle Erkenntnis wird also sowohl von innen wie auch von außen vermittelt. - Wir müssen diesen Unterweisungen nur Gehör schenken und sie bereitwillig annehmen. Wenn wir auf diese Weise Wissen empfangen, ist es ohne Bedeutung, daß es unbegreiflich ist. Im Śrīmad-Bhāgavatam z. B. wird eine ausführliche Beschreibung der Vaikuṇṭha-Planeten gegeben, die im spirituellen Himmel, weit jenseits der materiellen Welt, schweben, und auch im Caitanya-caritāmṛta erfahren wir von so vielen Dingen, die uns unfaßbar erscheinen. Das Wissen ist also bereits vorhanden, wir müssen es nur annehmen. Aber es muß unbedingt durch das guru-paramparā-System, durch die Nachfolge der geistigen Meister, empfangen werden. Wir können uns nicht der Absoluten Wahrheit, die für uns unbegreiflich ist, durch experimentelle Forschung nähern. Wir wollen zwar alles am liebsten mit Hilfe von Experimenten und direkter Beobachtung verstehen, doch das ist Torheit; es ist unmöglich.
Nach vedischem Verständnis ist Klang der Träger von Wissen. In der vedischen Kultur galt es daher als äußerst wichtig, von einem autorisierten geistigen Meister zu hören, denn wenn der Klang rein ist, vermittelt er wirkliches Wissen. In der materiellen Welt erfahren wir vieles durch Klangübertragung: Nachrichten z. B., die im Radio gesendet werden, oder das Telefon klingelt, und wir erhalten einen Anruf von einem Freund, der Tausende von Kilometern entfernt wohnt. Sobald wir seine Stimme hören - »Hallo, hier spricht so und so« -, wissen wir Bescheid. Obwohl unser Freund nicht vor uns steht, können wir doch mit Hilfe der Klangschwingungen Verbindung mit ihm aufnehmen. Klang gilt als die zuverlässigste Quelle der Erkenntnis, und so wird auch das vedische Wissen durch Hören empfangen.
Wie bereits erwähnt erfahren wir aus den Veden, daß es jenseits der materiellen Schöpfung noch eine andere Welt gibt, die die transzendentale Welt oder »Vaikuṇṭha« genannt wird. Die materielle Schöpfung bildet insgesamt nur ungefähr ein Viertel der Gesamtschöpfung. Um dies richtig verstehen zu können, muß man wissen, daß es nicht nur dieses eine Universum gibt, in dem wir jetzt leben, sondern noch unzählige andere. Schon dieses eine Universum ist für unsere Begriffe unermeßlich, doch es gibt unzählige solcher Universen, und sie alle zusammen bilden nur ein Viertel der gesamten Schöpfung. Die anderen drei Viertel bilden Vaikuṇṭha, die spirituelle Welt, und auf jedem der zahllosen Vaikuṇṭha-Planeten, die im spirituellen Himmel schweben, residiert Kṛṣṇa in einer vierarmigen Erweiterung als Nārāyaṇa, Viṣṇu.
Um die materielle Welt zu erschaffen, erweitert Sich Kṛṣṇa als Mahā-Viṣṇu, und ähnlich wie sich Mann und Frau verbinden, um Nachkommenschaft zu zeugen, verbindet Sich Mahā-Viṣṇu mit māyā, der materiellen Natur. In der Bhagavad-gītā sagt Kṛṣṇa: »Die materielle Natur ist die Mutter, von der alle Lebewesen geboren werden, und Ich bin der samengebende Vater.« Und wie befruchtet Viṣṇu die materielle Natur? Auch das wird in der Gītā erklärt: »Er warf einen Blick über die materielle Natur und schwängerte sie mit Lebewesen.« Natürlich ist auch dies spirituell zu verstehen. Wir können nur mit einem einzigen Teil unseres Körpers zeugen, doch Kṛṣṇa oder Viṣṇu kann mit jedem beliebigen Teil Seines Körpers befruchten, ja sogar mit Seinem Blick. Die Erklärung für diese transzendentale Fähigkeit findet man in der Brahma-saṁhitā: »Der spirituelle Körper des Höchsten Herrn ist so mächtig, daß jedes Körperteil die Funktionen jedes anderen erfüllen kann.« Wir können nur mit unserer Hand etwas anfassen, doch Kṛṣṇa kann dies auch mit Seinen Augen tun. Wir können mit unseren Augen ausschließlich sehen; wir können mit ihnen nichts berühren oder riechen, aber Kṛṣṇa kann mit Seinen Augen sowohl riechen als auch essen. Wenn wir Ihm z. B. Speisen opfern, sehen wir nicht, daß Er sie ißt, denn er verspeist unsere Opferung, indem Er über sie blickt.
Weil wir mit dem Mund essen, denken wir, es gebe keine andere Möglichkeit, als auf diese Weise Nahrung aufzunehmen. Doch wir haben vergessen, daß alles spirituell ist. Wir mögen zwar sagen »Ich habe aber doch mit eigenen Augen gesehen, daß Kṛṣṇa nichts gegessen hat«, doch können wir unsere jetzigen, materiell verunreinigten Sinne als Maßstab setzen? Kṛṣṇa ißt, aber Er ißt nicht wie wir. Wir werden jedoch wie Er essen können, wenn wir die spirituelle Ebene erreicht haben. Dann kann auch bei uns jedes Körperteil die Funktion jedes anderen übernehmen.
Auf einer unserer Illustrationen zum Śrīmad-Bhāgavatam ist Garbhodakṣāyī Viṣṇu zu sehen. Aus Seinem Nabel wächst eine Lotosblume, auf der Brahmā geboren wird, und Seine Energie, Lakṣmī, die Glücksgöttin, sitzt an Seiner Seite, immer bereit, Ihm zu dienen. Doch Viṣṇu benötigte Lakṣmī nicht, um Brahmā zu zeugen. Wie kann man also glauben, in der spirituellen Welt gebe es Sexualität, wie wir sie kennen? In der materiellen Welt ist Sexualität notwendig, um Kinder zu zeugen, doch in der spirituellen Welt kann man auch ohne die Hilfe einer Frau so viele Kinder erschaffen wie man will. Viṣṇu z. B. schuf Brahmā ohne Seine Frau. Das ist das Wesen der unbegreiflichen spirituellen Energie, und nur weil wir keine direkte Erfahrung von dieser Energie haben, halten wir solche Beschreibungen für Mythologie, Legende oder symbolhafte Darstellung. Doch in Wirklichkeit mangelt es uns lediglich an Kenntnis und Vorstellungsvermögen; die spirituelle Energie ist so mächtig, daß ihr keine Grenzen gesetzt sind. Sie besitzt völlige Unabhängigkeit. Wenn Mahā-Viṣṇu ausatmet, gehen aus jeder Pore Seines Körpers wie auch aus Mund und Nasenlöchern zahllose Universen hervor, die anfangs samengleich sind und sich dann ausdehnen, und wenn Er einatmet, gehen sie wieder in Ihn ein. Etwas Vergleichbares kennen wir auch in unserer Erfahrung. Im Atem eines Pockenkranken z. B. schweben zahllose Pockenviren. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Solche Dinge sind also durchaus möglich. Es bedarf lediglich ein wenig intellektueller Aufnahmefähigkeit, das scheinbar Unmögliche zu verstehen.
Wenn Mahā-Viṣṇu ausatmet, gehen alle Universen aus Ihm hervor, und wenn Er einatmet, kehren sie in Ihn zurück. Versuchen wir nur einmal, uns das vorzustellen: Die Existenzdauer unseres Universums währt, wie in der Brahma-saṁhitā bestätigt wird, nur einen Atemzug Mahā-Viṣṇus. Wir können zwar Brahmās Lebensdauer berechnen, doch entzieht es sich völlig unserem Vorstellungsvermögen, wie lange auch nur ein Tag Mahā-Viṣṇus dauert. Zwölf Stunden in Brahmās Leben bestehen aus nicht weniger als 4 300 000 000 unserer Sonnenjahre und Brahmā lebt insgesamt 100 solcher Jahre - und zwar während eines Atemzuges von Mahā-Viṣṇu. Welch ungeheure Atemkraft der Höchste Herr also besitzt! Und Mahā-Viṣṇu ist nur eine Teil-Repräsentation Kṛṣṇas.
Garbhodakaṣāyī Viṣṇu, der Brahmā zeugte, ist die Erweiterung Mahā-Viṣṇus, und Er erweitert Sich in Kṣīrodakaṣāyī Viṣṇu. Auf diese Weise gibt es in jedem Universum einen Garbhodakaṣāyī Viṣṇu und einen Kṣīrodakaṣāyī Viṣṇu.
Kṣīrodakaṣāyī Viṣṇu residiert auf Śvetadvīpa, einem spirituellen Planeten innerhalb des Universums, und Er kontrolliert und erhält alles im Kosmos Existierende. Brahmā ist der Schöpfer, Viṣṇu ist der Erhalter und wenn die Zeit der Auflösung gekommen ist, erscheint Śiva, um das Universum zu vernichten.
Nachdem Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī über Śrī Kṛṣṇa Caitanya und Nityānanda Prabhu gesprochen hat, geht er zu Advaitācārya über. Advaitācārya ist einer der Gefährten Śrī Caitanyas, deren Namen wir in einem unserer Gebete singen:
Śrī Kṛṣṇa Caitanya, Prabhu Nityānanda, Śrī Advaita,
Gadādhara, Śrīvāsādi gaura bhakta vṛnda
All diese Persönlichkeiten sind Erweiterungen des Höchsten Einen. Advaitācārya ist eine Inkarnation Mahā-Viṣṇus. Sein Name bedeutet soviel wie »unteilbar«, denn Er ist nicht verschieden vom Höchsten Herrn, und weil Er Kṛṣṇa-Bewußtsein lehrt, wird Er »ācārya« genannt. In dieser Beziehung gleicht Er Śrī Kṛṣṇa Caitanya, der, obwohl Er Śrī Kṛṣṇa Selbst ist, als Gottgeweihter erschien, um Liebe zu Gott zu verkünden.
Kṛṣṇa manifestiert Sich also in fünf Erweiterungen, und Er Selbst und alle Seine Gefährten erschienen als Geweihte des Höchsten Herrn. Śrī Kṛṣṇa Caitanya ist die Energiequelle für alle Gottgeweihten. Wenn wir bei Ihm Zuflucht suchen, wird es sehr einfach, Kṛṣṇa-bewußt zu werden. In diesem Zusammenhang gibt es ein sehr schönes Gebet eines großen Gottgeweihten und ācāryas:
»O Śrī Kṛṣṇa Caitanya, bitte sei mir barmherzig. Niemand ist so barmherzig wie Du, denn Du bist nur erschienen, um die gefallenen Seelen zu befreien. Doch Du wirst niemanden finden, der gefallener ist, als ich, und daher flehe ich Dich an, mich als ersten zu befreien. Da Du gekommen bist, um die gefallenen Seelen zu erlösen, und da niemand gefallener ist als ich, habe ich ein Vorrecht, befreit zu werden.«
Als nächstes bringt der Verfasser Śrī Kṛṣṇa seine Ehrerbietungen dar. Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī war ein großer Gottgeweihter und lebte, bevor er nach Vṛndāvana kam, lange Zeit im Kreise seiner Familie in einem Dorf in Bardan, Bengalen. Als es unter den Familienmitgliedern, die ebenfalls Rādhā und Kṛṣṇa verehrten, einige Mißverständnisse gab - nicht über familiäre Angelegenheiten, sondern in bezug auf die Ausführung des hingebungsvollen Dienens -, erschien ihm Nityānanda Prabhu im Traum und riet ihm, seine Familie zu verlassen und nach Vṛndāvana zu gehen. Obwohl Kṛṣṇadāsa Kavirāja schon sehr alt war, machte er sich noch in derselben Nacht auf den Weg in das heilige Dorf, wo er auch mit einigen der sechs Gosvāmīs zusammentraf. Sein Grabmal befindet sich noch heute im Rādhā-Dāmodara Tempel, in dem ich selbst lebe, wenn ich mich in Vṛndāvana aufhalte. Das Caitanya-caritāmṛta entstand nur, weil er von den Gottgeweihten in Vṛndāvana darum gebeten wurde, und obwohl er schon so alt war, war es ihm durch die Gnade Śrī Caitanyas vergönnt, dieses wunderbare und maßgebliche Buch über die Philosophie und das Leben Śrī Kṛṣṇa Caitanyas zu beenden.
In Vṛndāvana stehen drei bedeutende Tempel, die von allen Pilgern besucht werden, der Madana-Mohana-Tempel, der Govinda-Tempel und der Gopīnātha-Tempel. Die anderen Tempel, die sich heute in Vṛndāvana befinden, wurden erst in neuerer Zeit errichtet, als das kleine Dorf zu einer Stadt wuchs. Zur Zeit Kṛṣṇadāsa Kavirājas gab es bis auf wenige andere nur die Haupttempel von Madana-Mohana, Govinda und Gopīnātha. Als Einwohner von Vṛndāvana erweist Kṛṣṇadāsa Kavirāja den Bildgestalten Gottes in diesen Tempeln seinen Respekt, und da er sich für sehr gefallen hält und glaubt, nur langsam Fortschritt im spirituellen Leben zu machen, bittet er den Herrn, ihm gnädig zu sein: »O Herr, mein Fortschritt im spirituellen Leben geht nur äußerst zögernd von statten, und so bitte ich Dich um Beistand.«
Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī bringt den Bildgestalten Kṛṣṇas seine Ehrerbietungen dar, weil sie uns Kṛṣṇa-bewußt machen können, indem sie uns im hingebungsvollen Dienen beschäftigen. Unsere erste Pflicht ist es, Kṛṣṇa und unsere Beziehung zu Ihm zu erkennen. Wer Kṛṣṇa kennt, weiß zugleich auch, welche Beziehung er zu Ihm hat. Man kann seine Beziehung zu Kṛṣṇa sehr schnell wiedererwecken, indem man die Bildgestalt des Herrn im Tempel verehrt, und deshalb nimmt Kṛṣṇadāsa Kavirāja als erstes seine Beziehung zu Madana-Mohana auf. Wenn diese Beziehung heranreift, kann man mit wirklichem hingebungsvollem Dienen beginnen, und dann wendet man sich Govinda zu.
Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī erweist daher als nächstes Govinda seine Ehrerbietungen. Govinda hält sich immer in Vṛndāvana auf, dem Ort der kalpa-vṛkṣas (Wunschbäume). In der Brahma-saṁhitā wird beschrieben, daß das transzendentale Land von Vṛndāvana aus dem Stein der Weisen besteht, und daß die Bäume dort Wunschbäume sind. Kṛṣṇa hütet dort unzählige surabhis, spirituelle Kühe, und ist umgeben von Hunderttausenden von gopīs (Glücksgöttinnen) die Ihm mit Liebe und Hingabe dienen. Wenn Kṛṣṇa erscheint, erscheint Vṛndāvana mit Ihm. Hierin ähnelt Er einem König, der, wenn er irgendwo hingeht, seinen ganzen Hofstaat mit Dienern, Sekretären, Köchen usw. mitbringt. Deshalb wird gesagt, daß sich Vṛndāvana nicht in der materiellen Welt befindet, und aus diesem Grunde suchen die Gottgeweihten Zuflucht in dem heiligen Dorf. Vṛndāvana in Indien wird als ein Abbild des ursprünglichen Vṛndāvana angesehen, und daher sind auch die Bäume dort als spirituelle Wunschbäume zu betrachten. Viele Menschen werden nun fragen: »Oh, kann ich mir also alles, was ich will, von ihnen wünschen?« Die Antwort lautet: »Ja, doch man muß zuerst ein Gottgeweihter werden. Nicht jeder kann einfach nach Vṛndāvana gehen und die Wunschbäume ausprobieren.« Die sechs Gosvāmī z. B. verbrachten jede Nacht unter einem anderen dieser Bäume, und alle ihre Wünsche wurden erfüllt. Sie wurden mit allen Notwendigkeiten versorgt, obwohl sie lediglich unter diesen Bäumen lebten, und je mehr Fortschritt wir im hingebungsvollen Dienen machen, desto mehr werden wir erkennen, daß all dies durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Śrī1a Narottama dāsa Ṭhākura, ein großer Gottgeweihter und ācārya betete: »Wann werde ich endlich von allen unreinen Begehren nach materieller Sinnenfreude frei sein und Vṛndāvana sehen können?« Vṛndāvana kann man also erst dann wirklich wahrnehmen, wenn man jeglichen materiellen Genuß aufgegeben hat. Im Grunde ist alles spirituell. Doch diese Erkenntnis muß uns enthüllt werden; wir können sie nicht erzwingen. In dem Maße, wie wir Kṛṣṇa-bewußt werden, d. h. wie wir Fortschritte machen, werden uns all diese Dinge offenbart werden.
Tatsächlich ist Vṛndāvana in Indien nicht verschieden von Vṛndāvana in der spirituellen Welt, und deshalb sagt Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī, daß unter einem der Wunschbäume in Vṛndāvana ein mit Gold und Edelsteinen verzierter Thron steht, auf dem Rādhā und Kṛṣṇa sitzen und von Ihren Freundinnen, den gopīs, bedient werden: einige singen, während andere tanzen; manche bringen dem göttlichen Paar Betelnüsse und Erfrischungen dar, und wieder andere ziehen Blumenkränze auf. Es gibt insgesamt 108 solcher gopīs, die auf diese Weise als ständige Gefährtinnen im Dienst von Śrī Śrī Rādhā und Kṛṣṇa beschäftigt sind. Im Caitanya-caritāmṛta finden wir eine genaue Beschreibung dieser Szene.
Noch heute ist es in Indien Brauch, zur Erholung zu schaukeln. In jedem Haus hängt eine Schaukel, und wenn der Mann nach einem arbeitsreichen Tag müde nach Hause kommt, schaukelt er eine zeitlang und erfrischt sich so. Etwas ähnliches gibt es auch im hingebungsvollen Dienst für Rādhā und Kṛṣṇa: Während des Monats sravana (Juli) werden in allen Häusern, nicht nur in Vṛndāvana, sondern in ganz Indien, schaukelnde Throne aufgehängt. Nachdem Rādhā und Kṛṣṇa darauf gesetzt und mit Blumen umkränzt worden sind, werden sie hin- und her geschaukelt, während die Menschen Ihnen zur Ehre singen und tanzen. Dieses Fest wird Julun genannt, und hierzu werden alle Tempel geschmückt. - Tausende von Menschen kommen dorthin, um an den Festlichkeiten teilzunehmen.
Kṛṣṇadāsa Kavirāja erweist als nächstes Rādhā und Kṛṣṇa seine Ehrerbietungen. Die Bildgestalten von Rādhā und Kṛṣṇa zeigen uns, wie wir Rādhā und Kṛṣṇa dienen können. Madana-Mohana ermöglicht es uns, die feste Überzeugung zu gewinnen, Kṛṣṇas ewiger Diener zu sein, und Govinda nimmt unseren Dienst dann tatsächlich an.
Die nächste Form Kṛṣṇas in Vṛndāvana ist Gopīnātha. Der Autor segnet den Leser im Namen von Gopīnātha, dem Meister der gopīs, der die Kuhhirtenmädchen durch Sein Flötenspiel herbeilockte, weil Er mit ihnen tanzen wollte. Im Zehnten Canto des Śrīmad-Bhāgavatam finden wir dazu folgende Beschreibung: »Einige der gopīs schliefen gerade an der Seite ihrer Ehemänner; andere melkten die Kühe, und wieder andere versorgten ihre Kinder - sie alle waren also geschäftige junge Mädchen -, doch sowie sie Kṛṣṇas Flöte hörten, ließen sie alles stehen und liegen und eilten zu Ihm.«
In Indien werden die Mädchen mit zwölf und die Jungen mit achtzehn Jahren verheiratet. Kṛṣṇa hatte jedoch noch nicht geheiratet, denn Er war erst ein Knabe von fünfzehn oder sechzehn Jahren. Trotzdem rief Er Seine Freundinnen, die dazu noch verheiratet waren, durch Sein Flötenspiel zu sich, um mit Ihnen den »rāsa-Tanz« zu tanzen. Als die gopīs die transzendentalen Melodien hörten, konnten sie nicht umhin, sogleich zu der Stelle zu laufen, an der Kṛṣṇa stand und Flöte spielte. Dieser Ort wird »vaṁṣivata« genannt und ist noch heute in Vṛndāvana zu sehen. Er gilt als sehr heilig, und viele Pilger kommen dorthin, um ihre Ehrerbietungen darzubringen. Die Bäume stammen noch aus der Zeit Kṛṣṇas; daran ist durchaus nichts Unglaubwürdiges, denn gibt es nicht auch im Redwood Forest in San Francisco Mammutbäume, die über 7000 Jahre alt sind? Kṛṣṇa erschien vor 5000 Jahren, und wenn einige der damaligen Bäume noch existieren, so ist dies also nichts Ungewöhnliches. Der Baum jedenfalls, unter dem Er stand, wenn Er die gopīs herbeirief, um mit ihnen zu tanzen, ist noch immer vorhanden; das wird im Caitanya-caritāmṛta bestätigt.
Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī betet weiter: »Möge Gopīnātha, der Herr der gopīs, euch segnen.« Und so wünscht sich Kṛṣṇadāsa Kavirāja, daß wir uns ebenso stark zu Kṛṣṇa hingezogen fühlen wie die gopīs zu den süßen Tönen aus Gopīnāthas Flöte.
Die Botschaft Śrī Kṛṣṇa Caitanyas
Śrī Kṛṣṇa Caitanya Mahāprabhu gab Seinen Schülern den Auftrag, Bücher über die Wissenschaft des Kṛṣṇa-Bewußtseins zu schreiben - eine Aufgabe, der sich noch heute viele Seiner Anhänger widmen. Auf diese Weise wuchsen die Ausarbeitungen und Erklärungen zur Philosophie Śrī Caitanyas, vor allem weil sie durch eine ununterbrochene Nachfolge von geistigen Meistern überliefert werden, zur umfangreichsten, genauestens und stichhaltigsten Literatur aller religiösen Kulturen. Obwohl Śrī Caitanya in Seiner Jugend als Gelehrter weithin berühmt war, hinterließ Er uns nur acht Verse - das Śrī Śīkṣāṣṭaka -, in denen Er Seine Botschaft und Seine Grundsätze offenbart. Hier sind diese im höchsten Maße wertvollen Gebete, aus dem Sanskrit übersetzt von Seiner Göttlichen Gnade A. C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda:
Śrī Śīkṣāṣṭaka
ceto-darpana-mārjanaṁ bhava-mahādāvāgni-nirvāpaṇaṁ
ṣreyaḥ kairava-candrikā-vitaraṇaṁ vidyā-vadhū-jīvanam
ānandāmbudhi-vardhanaṁ pratipadaṁ pūrṇāmṛtāsvadanaṁ
sarvātma-snapanaṁ paraṁn vijayate ṣrī-kṛṣṇa-saṅkīrtanam
Höchster Ruhm dem Śrī Kṛṣṇa saṅkīrtana, der das Herz von allen seit undenkbaren Zeiten angesammelten Unreinheiten befreit und das Feuer des bedingten Daseins, der sich wiederholenden Geburten und Tode, löscht. Sie saṅkīrtana-Bewegung ist die größte Segnung für die Menschheit, da sie die Strahlen des segenspendenden Mondes verbreitet. Sie ist das Leben allen transzendentalen Wissens; sie läßt den Ozean der transzendentalen Glückseligkeit ständig anschwellen und befähigt uns, den reinen Nektar zu kosten, nach dem wir uns seit Ewigkeiten sehnen.
nāmnāmakāri bahudhā nija-sarva-ṣaktis
tatrārpitā niyamitaḥ smaraṇe na kālaḥ
etādṛṣī tava kṛpā bhagavān mamāpi
durdaivam īdṛṣam ichājani nānurāgaḥ
O mein Herr, Dein heiliger Name allein kann den Lebewesen allen Segen spenden, und deshalb hast du Millionen und Abermillionen von Namen wie Kṛṣṇa, Govinda und Vāsudeva. In diese transzendentalen Namen hast Du all Deine transzendentalen Energien eingehen lassen. Es gibt nicht einmal starre Regeln für das Chanten dieser Namen. O mein Herr, in Deiner Güte hast Du es uns durch Deinen heiligen Namen so leicht gemacht, Dir näherzukommen, aber unglückselig wie ich bin, verspüre ich keine Anziehung zu ihnen.
tṛṇād api sunīcena
taror api sahiṣṇunā
amāninā mānadena
kīrtanīyaḥ sadā hariḥ
Man soll den heiligen Namen des Herrn in aller Demut chanten, sich niedriger dünkend als das Stroh in der Gasse, duldsamer als ein Baum, frei von allem falschen Geltungsbewußtsein und immer bereit, anderen Ehre zu erweisen. In solcher Geisteshaltung kann man den Namen des Herrn ohne Unterlaß chanten.
na dhanaṁ na janaṁ na sundarīṁ
kavitām vā jagadīṣa kāmaye
mama janmani janmanīṣvare
bhavatād bhaktir ahaitukī tvayi
O allmächtiger Herr, ich trachte nicht nach Reichtum, noch begehre ich schöne Frauen, noch ersehne ich eine große Anzahl Anhänger. Ich wünsche mir nichts anderes als Dir grundlos und voller Hingabe - Geburt auf Geburt - dienen zu dürfen.
ayi nandatanuja kiñkaraṁ
patitaṁ māṁ viṣame bhavāmbudhau
kṛpayā tava pāda-paṅkaja
sthita-dhūlīsadṛṣaṁ vicintaya
O Sohn des Mahārāja Nanda (Kṛṣṇa), ich bin Dein ewiger Diener; aber dennoch bin ich auf irgendeine Weise in den Ozean der Geburten und Tode gefallen. Bitte, hebe mich aus diesem Ozean des Todes und gib mir als Staubkörnchen einen Platz bei Deinen Lotosfüßen.
nayanaṁ galadaṣrudhārayā
vadanaṁ gadgadaruddhayā girā
pulakair nicitaṁ vapuḥ kadā
tava nāmagrahaṇe bhaviṣyati
O mein Herr, wann werden meine Augen mit Tränen der Liebe geschmückt sein, die unaufhaltsam fließen, wenn ich Deinen heiligen Namen chante? Wann wird mir die Stimme ersticken, wenn ich Deinen heiligen Namen ausspreche, und wann werden sich beim Sprechen Deines Namens alle Härchen auf meinem Körper sträuben?
yugāyitaṁ nimeṣeṇa
cakṣuṣā prāvṛṣāyitam
ṣūnyāyitaṁ jagat-sarvaṁ
govinda-viraheṇa me
O Govinda, die Trennung von Dir läßt mir einen Augenblick wie zwölf Jahre und mehr erscheinen, und Tränen strömen von meinen Augen wie Regengüsse. In Deiner Abwesenheit fühle ich mich in dieser Welt verloren und leer.
āṣliṣya vā pādaratāṁ pinaṣṭu mām
adarṣanān marmahatāṁ karotu vā
yathā tathā vā vidadhātu lampaṭo
mat-prāṇa-nāthas tu sa eva nāparaḥ
Außer Kṛṣṇa kenne ich keinen anderen Herrn, und Er wird es immer bleiben - auch wenn Seine Umarmung rauh ist oder Er mir das Herz bricht, da Er nicht vor mir gegenwärtig ist. Ihm steht es gänzlich frei zu tun, was Ihm beliebt, doch immer wird Er mein angebeteter Herr bleiben - geschehe, was da will.
1. TEIL
1. KAPITEL
Die Unterweisung Rūpa Gosvāmīs
Als Śrīla Rūpa Gosvāmī, der jüngere Bruder Sanātana Gosvāmīs, mit seinem Bruder Vallabha Bhaṭṭa nach Prayāga, dem heutigen Allahabad, kam, erfuhren sie, daß Sich auch Śrī Caitanya Mahāprabhu in der Stadt aufhielt. Beide freuten sich bei dieser Nachricht sehr und machten sich sogleich auf, den Herrn zu sehen. Sie fanden Ihn, als Er gerade auf dem Weg zum Bindu-mādhava Tempel war. Während Śrī Caitanya chantete und tanzte, folgten Ihm Tausende von Menschen - einige weinten, andere lachten, und viele tanzten und sangen. Manche hatten sich langausgestreckt zu Boden geworfen und brachten dem Herrn ihre Ehrerbietung dar, und aus allen Kehlen erhob sich der heilige Name »Kṛṣṇa« wie eine brausende Woge. Prayāga liegt am Zusammenfluß des Ganges und der Yamunā, und man sagt, die Stadt sei niemals überflutet worden, obwohl sie an zwei Flüssen liege - bis Śrī Caitanya erschienen sei. Da sei Prayāga von der Woge der Liebe zu Kṛṣṇa überflutet worden.
Die beiden Brüder, Rūpa Gosvāmī und Vallabha Bhaṭṭa, beobachteten die riesige Menschenmenge und die wundervolle Szenerie von einem etwas abseits gelegenen, weniger belebten Platz aus. Der Herr tanzte mit erhobenen Armen und rief mit lauter, weithin zu vernehmender Stimme »Hari bol, Hari bol!«. Die Menschen waren gebannt vor Verwunderung, und viele blieben voller Staunen stehen, als sie Śrī Caitanya sahen; doch die tatsächliche Situation zu beschreiben ist so gut wie unmöglich.
Śrī Caitanya besuchte regelmäßig einen befreundeten brāhmaṇa, um bei ihm prasāda zu sich zu nehmen. Der Herr hielt Sich auch an diesem Tage im Hause des brāhmaṇa auf, und als Rūpa Gosvāmī und Vallabha dort ankamen, warfen sie sich schon in einiger Entfernung zu Boden, um dem Herrn ihre Ehrerbietungen zu erweisen, und chanteten dabei Sanskritverse aus den Schriften. Der Herr war sehr erfreut, als Er sah, daß Rūpa Gosvāmī Ihm so demütig seine Ehrerbietungen erwies, und sagte zu ihm: »Mein lieber Rūpa, steh bitte auf.« Dann erklärte Er ihm, er, Rūpa, sei von Kṛṣṇa gesegnet, da Kṛṣṇa ihn von der materialistischen Lebensweise erlöst habe, die sich einzig auf Geld gründe.
Śrī Caitanya nahm die beiden Brüder als Seine Geweihten an und zitierte einen Vers aus den Schriften, in dem es heißt: »Es ist nicht unbedingt sicher, daß ein brāhmaṇa, der die Veden studiert hat, ein Geweihter Kṛṣṇas wird, doch Kṛṣṇa nimmt sogar jemanden aus einer niedrigen Familie an, wenn dieser ein reiner Geweihter ist.« Der Herr umarmte daraufhin die beiden Brüder und berührte in Seiner Barmherzigkeit ihre Köpfe mit Seinen Lotosfüßen. So gesegnet brachten Rūpa Gosvāmī und Vallabha Bhaṭṭa dem Herrn Gebete dar; sie sagten: »Du bist Kṛṣṇa Selbst, der die golden strahlende Gestalt Gaurāngas angenommen hat. Du bist Kṛṣṇas großmütigste Inkarnation, da Du unbeschränkt Liebe zu Kṛṣṇa verschenkst.«
Śrīla Rūpa Gosvāmī trug bei dieser Gelegenheit einen Vers vor, der später auch in sein Buch »Govinda-lilāmṛta« aufgenommen wurde, und der wie folgt lautet: »Ich will mich den Lotosfüßen Śrī Kṛṣṇa Caitanya Mahāprabhus hingeben, der die größte und gütigste Persönlichkeit Gottes ist; der jene erlöst, die in Unwissenheit versunken sind, und der ihnen das höchste Geschenk in der Form reiner Liebe zu Kṛṣṇa bringt, so daß sie nur noch den Wunsch haben, Kṛṣṇa hingegeben zu dienen.«
Nach dieser Begebenheit wurde der Herr von Vallabha Bhaṭṭa eingeladen, der auf der anderen Seite des Ganges wohnte, und so begab Sich Śrī Caitanya dorthin. Rūpa Gosvāmī folgte Ihm von nun an überallhin und hielt sich ständig in seiner Nähe. Dem Herrn waren mit Menschen überfüllte Orte nicht angenehm, und so bat Er Rūpa Gosvāmī, Ihn zu einem Ort am Gangesufer, Daṣāṣvamedha Ghat genannt, zu begleiten. Zehn Tage lang unterwies Er ihn dort in der Wissenschaft des Kṛṣṇa-Bewußtseins, in den Prinzipien des hingebungsvollen Dienens und in den transzendentalen rasas* . Alles beschrieb Śrī Caitanya aufs Ausführlichste, so daß Rūpa Gosvāmī später imstande sein würde, die Wissenschaft von Kṛṣṇa in seinem Buch »Bhakti-rasāmṛta-sindhu« genau darzulegen. Im ersten Vers des Bhakti-rasāmṛta-sindhu, wo von der motivlosen Barmherzigkeit gesprochen wird, mit welcher der Herr Rūpa Gosvāmī segnete, beschreibt dieser, wie er von Śrī Kṛṣṇa Caitanya unterwiesen wurde. Der Höchste Persönliche Gott ist allmächtig und allwissend und kann es jedem Lebewesen durch Seine grundlose Gnade ermöglichen, Seine Barmherzigkeit bereitwillig zu empfangen. Im Banne des bedingten Lebens sind die meisten Menschen dem hingebungsvollen Dienen und dem Kṛṣṇa-Bewußtsein abgeneigt. Sie sind sich über den Sinn und Zweck des Kṛṣṇa-Bewußtseins nicht im klaren, das grundsätzlich aus drei Prinzipien besteht: 1) dem Erkennen unserer ewigen (jetzt schlummernden) Beziehung zum Höchsten Persönlichen Gott, 2) dem Erreichen des eigentlichen Lebenszieles, nämlich nach Hause, zu Gott, zurückzukehren und 3) dem Verbreiten der Methode, durch die man in die spirituelle Welt zurückkehren kann. Von diesen Prinzipien weiß die bedingte Seele nicht das geringste.
* das Sanskritwort »rasa« (Saft, Geschmack) bezeichnet in der Philosophie des Kṛṣṇa-Bewußtseins die Art der Beziehung zu Kṛṣṇa, d.h. die Eigenschaft der Liebe, die der Gottgeweihte mit dem Höchsten Herrn austauscht.
In Seiner motivlosen Gnade unterwies Śrī Caitanya nun Rūpa Gosvāmī in den Prinzipien des hingebungsvollen Dienens; später bot dieser dann die Wissenschaft von Kṛṣṇa in einer für alle Menschen zugänglichen Form dar. Śrīla Rūpa Gosvāmī sagt über Śrī Caitanya im Prolog zum Bhakti-rasāmṛta-sindhu: »Ich bringe den Lotosfüßen des Persönlichen Gottes, Śrī Caitanyadeva, meine respektvollen Ehrerbietungen dar, denn, inspiriert durch Ihn, verspüre ich in meinem Herzen den Drang, etwas über das hingebungsvolle Dienen zu schreiben. Deshalb verfasse ich nun dieses bedeutungsvolle Buch über die Wissenschaft der Hingabe, das den Titel „Bhakti-rasāmṛta-sindhu“ trägt.«
Śrī Caitanya Mahāprabhu unterwies Rūpa Gosvāmī zehn Tage lang. Zu Beginn Seiner Unterweisungen sagte Er: »Mein lieber Rūpa, die Wissenschaft des hingebungsvollen Dienens ist wie ein unermeßlicher Ozean, und es ist nicht möglich, dir diesen Ozean in seiner ganzen Fülle zu beschreiben. Doch Ich werde versuchen, dir das Wesen des Ozeans zu erklären, indem Ich einen Tropfen daraus nehme; du kannst ihn probieren und auf diese Weise verstehen, wie der Ozean des hingebungsvollen Dienens beschaffen ist.«
Innerhalb dieses brahmānda, dieses Universums, gibt es unzählige Lebewesen, die, gezwungen durch die Folgen ihres Tuns, von einer Art des Lebens zur anderen und von Planet zu Planet wandern müssen. Auf diese Weise sind sie schon seit unvordenklichen Zeiten in der materiellen Welt gefangen. Die Lebewesen sind winzige Teile des Höchsten Spirituellen Wesens, und ihre Größe wird im Zehnten Canto des Śrīmad-Bhāgavatam im 36. Vers des 87. Kapitels wie folgt beschrieben: »Wenn man die Spitze eines Haares in 100 Teile teilt und eines dieser Teile wiederum in 100 Teile, dann entspricht ein solches 10000ste1 Teil einer Haarspitze der Größe der Seele.« Dies wird auch in der Śvetāṣvatara Upaniṣad bestätigt.
Die Winzigkeit des individuellen Lebewesens, d. h. der Seele, wird im Śrīmad-Bhāgavatam auch im Elften Canto, im 11. Vers des 16. Kapitels beschrieben. Sanānda, einer der vier Kumāras, sagt dort in seiner Ansprache bei einer großen Opferzeremonie: »O Höchste Wahrheit, wären die Lebewesen nicht winzig kleine Funken des Höchsten Spirituellen Lebens, dann wäre jeder Funke alldurchdringend und müßte nicht von einer höheren Macht beherrscht werden. Wenn man aber anerkennt, daß das Lebewesen von seiner wesenseigenen Position her ein winziges Teil des Höchsten Herrn ist, dann muß man auch einräumen, daß es der höchsten Energie oder Macht untergeordnet ist. Das ist seine wesenseigene Position. Wenn es daher in diesem natürlichen Zustand bleibt, kann es völlige Freiheit erlangen. Wer jedoch fälschlich glaubt, seine wesenseigene Position sei mit der des höchsten Persönlichen Gottes identisch, verfällt der Lehre von der Nicht-Dualität, wodurch Bemühen um Fortschritt im spirituellen Leben erfolglos bleiben müssen.«
Der Herr fuhr in den Belehrungen fort und sprach von den zwei Arten von Lebewesen, nämlich den für alle Zeit und Ewigkeit befreiten und den auf ewig bedingten. Bei den ewig bedingten Lebewesen werden wiederum zwei Arten unterschieden, und zwar die sich bewegenden und die sich nicht bewegenden Lebewesen. Diejenigen, die sich nicht vom Ort bewegen können, wie z. B. die Bäume, bezeichnet man als »ortsgebundene Wesen.« Und diejenigen, die sich bewegen, wie Vögel und Säugetiere, heißen »jangama«, d. h. »sich bewegende Wesen«. Die Wesen, die sich bewegen können, sind erneut in drei Gruppen unterteilt: nämlich in die Wassertiere und -pflanzen, die Landlebewesen und die Vögel. Die tiryak (die Vögel) können in der Luft fliegen, auf dem Wasser schwimmen und sich auf dem Land bewegen. Unter den Millionen und Abermillionen von Landlebewesen sind die Arten der Menschen nur einige wenige. Von diesen wenigen Menschen gibt es viele, die auf dem Gebiet der spirituellen Wissenschaft völlig unerfahren sind und in ihren Lebensgewohnheiten keine Reinlichkeit kennen, die keinen Glauben an die Existenz des Höchsten Persönlichen Gottes haben und somit wie Tiere leben. Sie sind nicht zur menschlichen Gesellschaft, jedenfalls nicht zur zivilisierten menschlichen Gesellschaft zu zählen. Wir werden nur sehr wenige Menschen finden, die an die Schriften und an die Existenz Gottes glauben, oder daran, daß der Mensch sich rechtschaffen verhalten muß. Wer dies tut, wird als »Aryan« bezeichnet, als »jemand, der an den Fortschritt im spirituellen Leben glaubt«.
Unter denen, die an die Schriften und den Fortschritt der menschlichen Zivilisation glauben, gibt es zwei Arten von Menschen: die Rechtschaffenen und die Sündvollen. Die Rechtschaffenen gehen größtenteils fruchtbringenden Tätigkeiten nach, d. h. sie handeln rechtschaffen, um auf diese Weise die Befriedigung ihrer Sinne auf legitimem Wege zu erreichen. Von vielen solcher Menschen, die um der Sinnenbefriedigung willen ein rechtschaffenes Leben führen, bemühen sich einige wenige, etwas über die Absolute Wahrheit zu erfahren. Sie werden »jñānīs« genannt, was soviel bedeutet wie »diejenigen, die nach der Absoluten Wahrheit suchen«. Sie sind größtenteils empirische Philosophen, und von vielen Hunderttausenden solcher Philosophen werden nur einige wenige tatsächlich zur Befreiung gelangen. Befreiung bedeutet in diesem Sinne, daß sie theoretisch verstehen, daß ein Lebewesen nicht aus Materie besteht, sondern von spiritueller Natur ist, die sich von der Materie unterscheidet. Wenn sie diese Tatsache verstehen, sei es auch nur theoretisch, können sie als »mukta« (befreit) bezeichnet werden; doch wirkliche muktas, d. h. wahrhaft befreite Seelen, sind diejenigen, die ihre wesenseigene Position als Teile und ewige Diener Gottes erkennen. Wenn solche befreiten Seelen mit Glauben und Hingabe dem Herrn dienen, werden sie »Kṛṣṇa-bhaktas« oder »Gottgeweihte« genannt.
Kṛṣṇa-bewußte Menschen sind frei von materialistischen Begierden. Wer nur theoretisch befreit ist, hat lediglich verstanden, daß das Lebewesen nicht aus Materie geschaffen ist. Obwohl solche Menschen zu den befreiten Seelen zählen, hegen sie immer noch persönliches Verlangen - sie wollen z. B. mit dem Höchsten Persönlichen Gott eins werden oder legen großen Wert auf die Riten und Zeremonien, die in den Veden dargelegt sind, und bemühen sich, rechtschaffen zu leben, um dadurch materielles Glück zu erlangen. Und selbst wenn einige von ihnen das Streben nach materiellem Genuß aufgegeben haben, so wollen sie doch immer noch in der spirituellen Welt genießen und mit dem Höchsten Herrn eins werden. Andere haben den Wunsch, Vollkommenheit in der Beherrschung mystischer Kräfte zu erlangen. Solange noch solche Wünsche im Herzen eines Menschen brennen, kann er die Natur des reinen hingebungsvollen Dienens nicht verstehen, und getrieben von seinen Begierden findet er keinen Frieden. Solange das Verlangen nach materieller Vollkommenheit unser Denken und Handeln bestimmt, können wir nicht friedvoll werden. Die Geweihten Kṛṣṇas streben nicht nach materiellen Vorteilen, und daher sind sie die einzigen wahrhaft friedvollen Menschen in der materiellen Welt. Das wird im Sechsten Canto des Śrīmad-Bhāgavatam im 4. Vers des 14. Kapitels bestätigt, wo es heißt: «Unter vielen Millionen befreiter Menschen und solchen, die mystische yoga-Kräfte entwickelt haben, findet man nur selten einen, der dem Höchsten Persönlichen Gott völlig hingegeben und deshalb friedvoll Ist.«
Śrī Caitanya erklärte weiter, daß Millionen und Trillionen von Lebewesen in der materiellen Welt umherwandern und nur einige wenige durch die Gnade Kṛṣṇas und des geistigen Meisters den Samen des hingebungsvollen Dienens empfangen können. Der fromme, d. h. religiöse Mensch neigt im allgemeinen dazu, die Bildgestalten der Halbgötter in den verschiedenen Tempeln zu verehren, und wenn er durch Zufall seine Ehrerbietungen Viṣṇu, dem Höchsten Persönlichen Gott, erweist und die Gunst eines Vaiṣṇavas, eines Gottgeweihten, erwirbt, so hilft ihm das, selbst wenn die Verehrung unbewußt geschah, sich dem Höchsten Herrn zu nähern. Im Śrīmad-Bhāgavatam finden wir in diesem Zusammenhang das Beispiel des großen Weisen Nārada Muni. Nārada hatte die Gelegenheit, Vaiṣṇavas zu dienen, und erwarb sich so ihre Gunst, mit dem Ergebnis, daß er im nächsten Leben selbst ein großer
Gottgeweihter wurde. Die Vaiṣṇavas bzw. Gottgeweihten haben stets großes Mitleid mit den bedingten Seelen, und ein Gottgeweihter geht sogar, ohne von einer bedingten Seele darum gebeten zu werden, von Tür zu Tür, um die Menschen, die im Dunkel der Unwissenheit leiden, mit dem Wissen um ihre wesenseigene Position zu erleuchten, die darin besteht, in hingebungsvollem Dienen bzw. Kṛṣṇa-Bewußtsein zu leben. Solche Gottgeweihte sind vom Herrn ermächtigt und besonders dazu befähigt, allen Arten von Menschen das Bewußtsein der Hingabe, Kṛṣṇa-Bewußtsein, zu vermitteln. Sie werden autorisierte geistige Meister genannt. Nur durch die Barmherzigkeit eines solchen geistigen Meisters kann die bedingte Seele den Samen des hingebungsvollen Dienens empfangen. Man erfährt die motivlose Gnade des Höchsten Persönlichen Gottes zum erstenmal, wenn man mit einem autorisierten geistigen Meister in Berührung kommt, der die bedingte Seele erleuchten und somit zur höchsten Ebene des hingebungsvollen Dienens erheben kann. Deshalb sagt Śrī Caitanya, man könne durch die Gnade des geistigen Meisters die motivlose Barmherzigkeit des Herrn und durch die Barmherzigkeit des Höchsten Persönlichen Gottes die Gnade des geistigen Meisters erlangen.
Durch die Gnade des geistigen Meisters und die Gnade Kṛṣṇas wird einem der Samen des hingebungsvollen Dienens zuteil, den man auf dem Felde des Herzens säen muß, wie ein Gärtner den Samen eines edlen Baumes. Nachdem man den Samen gesät hat, muß man ihn begießen, indem man die heiligen Namen des Höchsten Herrn singt und hört oder an den Gesprächen reiner Gottgeweihter über hingebungsvolles Dienen teilnimmt. Sowie der Keimling des hingebungsvollen Dienens aus dem Samen der Hingabe hervorbricht, beginnt er zu wachsen, und wenn die Pflanze ihre höchste Entwicklung erreicht hat, durchdringt sie die Schale des Universums und geht in die transzendentale, spirituelle Welt ein, in der alles von den Strahlen des brahmajyoti erleuchtet wird. Die Pflanze durchdringt sogar das brahmajyoti und erreicht schließlich den Planeten, der als Goloka Vṛndāvana bekannt ist. Dort sucht sie Zuflucht bei den Lotosfüßen Śrī Kṛṣṇas. Das ist das endgültige Ziel des hingebungsvollen Dienens. Nachdem die Pflanze zu Füßen Śrī Kṛṣṇas zur Ruhe gekommen ist, bringt sie eine Frucht hervor, die Liebe zu Gott genannt wird. Der Gottgeweihte, der transzendentale Gärtner, muß die Pflanze durch den Vorgang des Chantens* und Hörens täglich und regelmäßig begießen, denn wenn er nicht chantet und hört, d. h. wenn er kein Wasser auf die Wurzeln der Pflanze gießt, kann diese leicht vertrocknen.
* singen oder sprechen
Der Herr erklärte weiter, es gebe noch eine andere Gefahr, während man die Pflanze begieße: Zum Beispiel könne es geschehen, daß ein Tier komme und sie auffresse oder niedertrete, wie es auch bei einer gewöhnlichen Pflanze manchmal der Fall sei. Und auch wenn ein Tier nur die Blätter einer Pflanze fresse, verdorre diese gewöhnlich. Man müsse also darauf achten, daß die Pflanze des hingebungsvollen Dienens nicht von Tieren vernichtet werde. Der Begriff »Tier« wird in bezug auf Vergehen gegen die reinen Gottgeweihten gebraucht; diese Vergehen nennt man Vaiṣṇava-aparādha. Sie werden mit einem tollwütigen Elefanten verglichen: Wenn ein tollwütiger Elefant in einen Garten einbricht, richtet er unabsehbaren Schaden unter Pflanzen und Bäumen an. - Ebenso wirkt sich eine Blasphemie der Lotosfüße eines reinen Gottgeweihten verheerend auf den Fortschritt im hingebungsvollen Dienen aus. Man muß deshalb die Pflanze durch eine gute Umzäunung schützen, d. h., man muß sich davor hüten, bei der Ausführung hingebungsvoller Dienste die reinen Gottgeweihten zu kränken. Wenn man darauf achtet, sich keinerlei Vergehen gegen die Gottgeweihten zu Schulden kommen zu lassen, ist die Pflanze des hingebungsvollen Dienens geschützt. Es gibt zehn Vergehen, die auch Vergehen gegen den heiligen Namen genannt werden. Der heilige Name Kṛṣṇas ist von Kṛṣṇa nicht verschieden, und Śrī Kṛṣṇa duldet daher solche Vergehen nicht.
Das erste Vergehen besteht darin, große Gottgeweihte zu beleidigen oder zu beschimpfen, die versucht haben oder versuchen, den Ruhm des heiligen Namens überall auf der Welt zu verbreiten. Wenn jemand auf einen Gottgeweihten neidisch oder ihm mißgünstig gesinnt ist, während dieser versucht, der Anweisung seines geistigen Meisters nachzukommen und den heiligen Namen auf der ganzen Welt zu verbreiten, stellt solcher Neid und solche Mißgunst das größte Vergehen gegen den heiligen Namen dar. Das zweite Vergehen besteht darin zu leugnen, daß Śrī Viṣṇu die Absolute Wahrheit ist. Es gibt keinen Unterschied zwischen Seinem Namen, Seinen Eigenschaften, Seiner Gestalt, Seinen Spielen und Seinen Taten; wer in diesen verschiedenen Wesensformen des Höchsten Herrn einen
Unterschied sieht, ist ebenfalls ein Sünder. Auch kommt niemand dem Höchsten Herrn gleich, und niemand ist größer als Er, denn der Herr ist der Höchste. Wenn also jemand glaubt, der Herr befinde Sich auf der gleichen Ebene wie ein Halbgott, macht er sich eines großen Vergehens schuldig. Das dritte Vergehen begeht jemand, der die Auffassung hegt, der geistige Meister sei ein gewöhnlicher Mensch. Das vierte besteht darin, die vedischen Schriften herabzuwürdigen. Das fünfte Vergehen begeht jemand, der glaubt, der Ruhm des heiligen Namens sei eine Übertreibung. Das sechste Vergehen besteht darin, dem heiligen Namen eine entstellte Bedeutung zu geben. Das siebte Vergehen ist das Begehen von Sünden im Vertrauen auf die reinigende Kraft, die dem Chanten des heiligen Namens innewohnt. Es ist bekannt, daß man von allen sündhaften Reaktionen befreit wird, wenn man den heiligen Namen des Herrn chantet, aber das bedeutet nicht, daß man im Vertrauen auf die reinigende Kraft des heiligen Namens sündhaft handeln darf. Wer dies dennoch tut, macht sich des schwersten Vergehens schuldig. Das achte Vergehen besteht darin zu denken, rituelle religiöse Handlungen wie Bußen, Entsagungen oder die Darbringung von Opfern seien dem Chanten des heiligen Namens ebenbürtig. Das Chanten des heiligen Namens ist der Höchsten Persönlichkeit Gottes gleichgestellt. Andere fromme Tätigkeiten mögen zwar auch helfen, sich dem Höchsten Herrn zu nähern, doch wenn sie zur Erreichung eines materiellen Ziels mißbraucht werden, ist dies ein weiteres Vergehen. Das neunte Vergehen besteht darin, gottlose Menschen über die Herrlichkeit des heiligen Namens zu unterrichten. Das zehnte und letzte Vergehen ist das Haften an materiellen Dingen, obwohl man den heiligen Namen Gottes chantet. Wenn man den heiligen Namen ohne jedes Vergehen chantet, kann man Befreiung erlangen. Befreiung bedeutet in diesem Zusammenhang, von allen materiellen Anhaftungen frei zu werden; deshalb gilt es als Vergehen, noch immer materielles Verlangen zu hegen, obwohl man den heiligen Namen chantet.
Während die Pflanze des hingebungsvollen Dienens wächst, können jedoch noch andere Störungen auftreten. Zusammen mit der Pflanze des hingebungsvollen Dienens wächst nämlich auch Unkraut, das mit materiellen Wünschen verglichen wird. Wenn der Gottgeweihte im hingebungsvollen Dienen Fortschritte macht, ist es nur natürlich, daß viele Menschen zu ihm kommen, die seine Schüler werden wollen, und die ihm materielle Bequemlichkeit bieten. Wenn er durch die wachsende Zahl seiner Schüler und die von ihnen angebotenen Annehmlichkeiten verblendet wird und seine Pflicht als geistiger Meister vergißt, verursacht dies eine weitere Störung im Wachstum der Pflanze des hingebungsvollen Dienens. Denn es kann wohl sein, daß er dem Genuß materieller Bequemlichkeiten zum Opfer fällt, wenn er solche Angebote entgegennimmt.
Ein anderes Hindernis im hingebungsvollen Dienen ist das Streben nach Befreiung. Die Einschränkungen oder Verbote nicht einzuhalten wirkt sich ebenfalls nachteilig aus. Diese Verbote, die in den autorisierten Schriften aufgeführt sind, lauten: Man soll sich nicht der Gesellschaft von Frauen oder unzulässiger geschlechtlicher Betätigung hingeben; man soll sich nicht berauschen; man soll nichts anderes essen als Kṛṣṇa-prasāda (Nahrung, die Kṛṣṇa geopfert wurde), und man soll nicht an Glücksspielen teilnehmen. Dies sind die Einschränkungen, die für wirkliches hingebungsvolles Dienen erforderlich sind; wenn man diese Prinzipien nicht strikt befolgt, können bei der Ausführung des hingebungsvollen Dienens schwere Störungen auftreten.
Eine weitere Störung verursacht der Wunsch, durch die Ausübung des hingebungsvollen Dienens Ruhm zu ernten. Wenn man nicht achtsam ist, können, wie oben geschrieben, beim Begießen der Pflanze des hingebungsvollen Dienens auch andere, unnütze Pflanzen wachsen und den Fortschritt des hingebungsvollen Dienens hemmen. Das bedeutet, daß auch die unnützen Pflanzen durch die Bewässerung üppig wuchern, und daß der unaufmerksame Gärtner übersieht, wie solches Unkraut das Wachstum der Pflanze des hingebungsvollen Dienens beeinträchtigt. Es ist die Pflicht des Neulings, alle unnützen Pflanzen auszujäten. Mit anderen Worten: Wenn man das Heranwachsen unnützer Pflanzen sorgsam verhindert, kann sich die Hauptpflanze frei entfalten und das höchste Ziel erreichen - den Planeten Goloka Vṛndāvana. Es ist das Ergebnis des wirklichen hingebungsvollen Dienens - oder die wahre Frucht der Pflanze des hingebungsvollen Dienens -, zu diesem Planeten Goloka Vṛndāvana zu gelangen. Wenn das Lebewesen, das in liebender Hingabe dient, die Frucht der Liebe zu Gott kostet, vergißt es alle rituellen Betätigungen, alles religiöse Denken und Handeln zur Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die Befriedigung der Sinne und den Wunsch, mit dem Höchsten Herrn eins zu werden und in seine unendliche Lichtfülle einzugehen.
Es gibt viele Vorstufen des spirituellen Wissens und der transzendentalen Glückseligkeit wie etwa die Ausführung ritueller Opferungen, die in den Veden empfohlen werden, die Auferlegung strenger Bußen, die Ausübung religiöser Pflichten und die Praxis des mystischen yoga. Sie alle haben ihre eigenen, unterschiedlichen Ergebnisse, deren sich der Ausführende erfreuen kann; doch diese Ergebnisse behalten ihren anziehenden Glanz nur so lange, bis man zum transzendentalen liebevollen Dienst für Gott erhoben wird. Dazu gibt es einen treffenden Vergleich: Ein Mensch, der von einer Schlange gebissen wird, bleibt so lange bewußtlos, bis er ein bestimmtes Medikament riecht. Sobald er diesen besonderen Duft einatmet, wird dem Gift die Wirkung genommen, und sein Bewußtsein kehrt zurück.
Unsere ursprüngliche Liebe zu Gott kann durch die Ausübung reinen hingebungsvollen Dienens aus ihrem jetzigen Schlafzustand erweckt werden. Was aber ist das Wesen dieses hingebungsvollen Dienens? Was sind seine Symptome? Śrī Caitanya erklärte Rūpa Gosvāmī, daß es im reinen hingebungsvollen Dienen keinen anderen Wunsch gibt als den Willen, im Kṛṣṇa-Bewußtsein fortzuschreiten. In diesem Bewußtsein ist kein Raum für die Verehrung der Halbgötter oder anderer Lebewesen, noch für spekulative, empirische Philosophie oder materiell-einträgliche Betätigung. Man sollte sich von all diesen materiellen Verunreinigungen fernhalten und nur das annehmen, was dazu dient, Leib und Seele zusammenzuhalten, nichts jedoch, was die Ansprüche des Körpers zusätzlich vermehrt. Man sollte lediglich die elementaren Bedürfnisse des Körpers befriedigen, denn das wichtigste ist, daß man durch das Chanten der heiligen Namen Gottes Kṛṣṇa-Bewußtsein entwickelt. Reines hingebungsvolles Dienen bedeutet, alle Sinne, die uns gegeben sind, in den Dienst des Herrn zu stellen. Zur Zeit sind unsere Sinne verunreinigt, weil unser Körper im Materiellen gebunden ist und wir uns mit ihm identifizieren. So glauben wir, unser Körper gehöre zu einer bestimmten Gesellschaft, er gehöre einer bestimmten Nation oder einer bestimmten Familie an, und daher bezeichnen wir uns als Deutsche, Amerikaner, Inder, Männer oder Frauen usw. Diese Vorstellungen sind das sichere Zeichen für ein körperliches Bewußtsein. Die Sinne gehören zum Körper, und wenn sie unter solch körperlicher Lebensauffassung stehen, sei sie nun auf Familie, Gesellschaft oder Nation bezogen, kann Kṛṣṇa-Bewußtsein nicht entwickelt werden. Die Sinne müssen also geläutert werden. Wir sollten verstehen, daß wir selbst Kṛṣṇa gehören, daß unser Leben Kṛṣṇa gehört, und daß es unsere Identität ist, Kṛṣṇa auf immer und ewig zu dienen. Reines hingebungsvolles Dienen bedeutet somit, alle Sinne in den Dienst des Herrn zu stellen.
Ein reiner Gottgeweihter gibt sich dem transzendentalen liebevollen Dienst für den Höchsten Persönlichen Gott hin; Befreiung zu persönlicher Sinnenfreude lehnt er ab. Im Dritten Canto des Śrīmad-Bhāgavatam erklärt Kapiladeva im 10.-12. Vers des 29. Kapitels die reine Natur des hingebungsvollen Dienens wie folgt: »Sobald ein reiner Gottgeweihter von der Herrlichkeit und den transzendentalen Eigenschaften des Höchsten Persönlichen Gottes hört, der im Herzen jedes Lebewesens weilt, strebt sein Geist sofort dem Herrn entgegen wie das Wasser des Ganges dem Meer entgegenfließt.« Diese spontane Hinwendung zum Höchsten Persönlichen Gott ist ein Zeichen für reine dienende Hingabe. Hingebungsvolles Dienen ohne jegliches Gewinnstreben und ohne Hindernisse materieller Natur nennt man reine Hingabe. Der reine Gottgeweihte begehrt nicht danach, mit dem Höchsten Herrn auf demselben Planeten zu leben; er hegt nicht den Wunsch, an der reichen Fülle der Höchsten Göttlichen Persönlichkeit teilzuhaben, und er verlangt auch nicht danach, die gleiche Form wie der Höchste Persönliche Gott zu erhalten. Er sehnt sich nicht danach, mit dem Herrn unmittelbar zusammenzusein, und er möchte erst recht nicht mit der Höchsten Person verschmelzen - selbst wenn Gott ihm all dies anbieten würde. Der Grund hierfür liegt darin, daß ein Gottgeweihter so sehr darin aufgeht, dem Herrn in transzendentaler Liebe zu dienen, daß er gar nicht dazu kommt, über diese Beschäftigung hinaus an seinen persönlichen Vorteil zu denken. Wie ein materialistischer Unternehmer fortwährend nur an sein Geschäft denkt, so ist ein reiner Gottgeweihter, der dem Herrn in seiner Hingabe dient, ständig in Gedanken an den Höchsten versunken.
Wer all diesen Gegebenheiten entspricht, hat die höchste Stufe des hingebungsvollen Dienens erreicht. Und nur durch solch transzendentales liebevolles Dienen kann man den Einfluß māyās überwinden und reine Liebe zu Gott entwickeln. Solange man noch Verlangen nach materiellem Genuß oder nach Befreiung - den beiden »Hexen der Verführung« - hegt, kann man keinen Geschmack am transzendentalen liebevollen Dienst finden.
Es gibt drei Stufen des hingebungsvollen Dienens: die erste wird die Stufe der Entwicklung genannt, d. h. der Neuling beginnt, einen Geschmack für das transzendentale liebevolle Dienen zu entwickeln; auf der zweiten Stufe verwirklicht er seinen Dienst, und auf der dritten, der höchsten Stufe, erlangt er Liebe zu Gott. Es gibt neun Methoden, wie z. B. Chanten, Hören und Sich-Erinnern, mit deren Hilfe man hingebungsvolles Dienen entwickeln kann. Diese Vorgänge kennzeichnen das Anfangsstadium des hingebungsvollen Dienens.
Wenn man mit Hingabe und Vertrauen hört und chantet, verschwinden allmählich alle materiellen Zweifel. Mit der Zeit verstärkt sich der Glaube an den hingebungsvollen Dienst, so daß der Schüler immer höhere Stufen erreicht. Er wird allmählich gefestigt, entwickelt immer mehr Geschmack am hingebungsvollen Dienen, erreicht die Stufe der Anhaftung und erlebt schließlich jene Ekstase, die das Anfangsstadium der Liebe zu Gott genannt wird. Die Ekstase entsteht aus der Entwicklung des hingebungsvollen Dienens. Wenn sie durch die Methode des Hörens und Chantens weiter vervollkommnet wird, konzentriert sie sich allmählich und wird letzten Endes zur »Liebe zu Gott«.
Von dieser Stufe aus sind weitere Entwicklungsstadien möglich, die »transzendentale Zuneigung«, »Emotion«, »Ekstase« und »äußerste, intensive Anhaftung« genannt werden. Im Sanskrit heißen diese Stufen »rāga«, »anurāga«, »bhāva« und »mahābhāva« oder »premā«. Dies sind die technischen Bezeichnungen. Wie sich eine Stufe aus der anderen entwickelt, wird am Beispiel des Zuckersirups deutlich: Zu Beginn ist der Zuckersirup flüssig; wenn dann etwas Wasser verdampft, verdickt er sich, wird zu Melasse, dann zu Kristallzucker und schließlich zu Kandis. Dies sind die verschiedenen Stadien, die der Zuckersaft durchläuft, und ähnlich gibt es auch verschiedene Stufen in der Entwicklung der transzendentalen Liebe zum Höchsten Persönlichen Gott. Wenn man sich auf der transzendentalen Ebene befindet, hat man die Stufe der Stetigkeit erlangt. Wer diese transzendentale Ebene noch nicht erreicht hat, hat im hingebungsvollen Dienen oder der Liebe zu Gott noch keine Beständigkeit erlangt und läuft sehr leicht Gefahr, wieder zurückzufallen. Befindet man sich jedoch auf der transzendentalen Ebene, wird man stetig und braucht einen Rückfall ins materielle Bewußtsein nicht mehr zu befürchten. Diese Stufe der Selbstverwirklichung wird »sthāyi-bhāva« genannt.
Von der Stufe der »sthāyi-bhāva« kann man sich auf noch höhere Stufen erheben, die als »vibhāva«, »anubhāva«, »satvik« und »vyabhicāri-bhāva« bekannt sind. Verbinden sich diese vier mit der »Stetigkeit« des reinen transzendentalen Lebens findet ein Austausch von rasa oder transzendentalem Wohlgeschmack statt. Dieses liebevolle Geben und Erwidern zwischen den Liebenden heißt im allgemeinen »Kṛṣṇa-bhakti-rasa« oder »der transzendentale Geschmack des Austausches von Liebesgefühlen zwischen dem Gottgeweihten und dem Höchsten Persönlichen Gott«. Wir sollten uns jedoch daran erinnern, daß, wie oben erklärt wurde, solche Entwicklung des transzendentalen liebenden Austausches von rasas auf der Stufe der »sthāyī-bhāva« beruht. Das Grundprinzip von »vibhāva« ist »sthāyī-bhāva«; die anderen Aktivitäten sollen lediglich dazu beitragen, transzendentale Liebe für Kṛṣṇa zu entwikkeln.
Die Ekstase der transzendentalen Liebe besteht aus zwei Komponenten: aus der Verbindung und der Ursache der Ekstase. Die Verbindung läßt sich wiederum unterteilen, nämlich in Subjekt und Objekt. Im hingebungsvollen Dienen findet ein liebevoller Austausch zwischen Kṛṣṇa und dem Gottgeweihten statt, und die transzendentalen Eigenschaften Kṛṣṇas sind die Ursache der Ekstase, die dabei entsteht. Das bedeutet, daß ein Gottgeweihter sich dafür begeistert, dem Höchsten Persönlichen Gott, Kṛṣṇa, zu dienen, da er von den transzendentalen Eigenschaften Kṛṣṇas bezaubert ist. Die Māyāvādī-Philosophen behaupten, die Absolute Wahrheit sei eigenschaftslos, doch die Vaiṣṇava-Philosophen wissen, daß nirguṇa (Eigenschaftslosigkeit) bedeutet, daß die Absolute Wahrheit keine materiellen Qualitäten hat, sondern spirituelle Eigenschaften, die so einzigartig und herrlich sind, daß sich selbst befreite Seelen zum Höchsten Herrn hingezogen fühlen. Diese Tatsache wird im ātmārāma-Vers des Śrīmad-Bhāgavatam sehr schön erklärt. Dort heißt es, daß selbst diejenigen, die selbstverwirklicht sind, von Kṛṣṇas Eigenschaften angezogen werden. Das beweist, daß die Eigenschaften Kṛṣṇas nicht von materieller Art sind - es sind rein transzendentale Eigenschaften.
Die höchste Stufe der Ekstase läßt sich an folgenden dreizehn Symptomen erkennen: 1. Tanzen, 2. sich auf dem Boden wälzen, 3. Singen, 4. in die Hände klatschen, 5. Sträuben der Körperhaare, 6. enormer Stimmaufwand, 7. Gähnen, 8. schweres Atmen, 9. Vergessen gesellschaftlicher Formen, 10. Speichelausfluß, 11. Lachen, 12. Kopfschmerzen und 13. Husten. Diese dreizehn Symptome treten nicht alle gleichzeitig auf, sondern richten sich nach der Art des Austausches von transzendentalem Wohlgeschmack. Manchmal machen sich einzelne Symptome besonders deutlich bemerkbar. Der transzendentale Wohlgeschmack kann fünffach unterteilt werden: die erste Stufe wird im allgemeinen ṣānta-rati genannt. Auf dieser Ebene erkennt man die Größe des Höchsten Persönlichen Gottes, da man von der materiellen Verunreinigung befreit ist; doch man dient Ihm noch nicht in reiner transzendentaler Liebe. Man befindet sich noch im Stadium der Neutralität, d. h. der noch inaktiven Zuneigung zum Höchsten.
Die zweite Stufe beginnt, wenn man erkennt, daß man für ewig dem Höchsten Persönlichen Gott untergeordnet und immer von Seiner Gnade abhängig ist. Zu diesem Zeitpunkt erwacht eine natürliche Zuneigung, ähnlich der, die ein erwachsener Sohn für seinen Vater empfindet, der ihn mit allem versorgt. In diesem Stadium möchte das Lebewesen statt māyā, der Illusion, dem Höchsten Persönlichen Gott dienen. Man nennt dieses Stadium dāsya-rati. Die nächste Stufe der transzendentalen Liebe wird sākhya-rati genannt. Hierbei hat man eine respektvolle und liebevolle Beziehung zum Herrn und befindet sich auf der gleichen Ebene wie Er. Dieses Stadium entwickelt sich weiter im scherzenden Umgang und im entspannten Austausch mit fröhlichem Lachen und dergleichen. Dies wird Freundschaft mit dem Persönlichen Gott ohne dienende Zurückhaltung genannt. Man vergißt auf dieser Stufe gleichsam seine untergeordnete Stellung als Lebewesen, obwohl man der Höchsten Person immer noch den größten Respekt entgegenbringt. Wenn sich der transzendentale rasa der Freundschaft weiterentwickelt, nennt man ihn vātsalya-rati, elterliche Liebe. Auf dieser Stufe versucht das Lebewesen, Gottes Vater oder Mutter zu sein, und statt den Herrn zu verehren, wird das Lebewesen als Vater oder Mutter des Höchsten von diesem verehrt. Der Herr macht Sich in dieser Beziehung von der Gnade Seiner reinen Geweihten abhängig. Er begibt Sich freiwillig in die Obhut Seines Geweihten, um von ihm liebevoll aufgezogen zu werden.
Der Gottgeweihte erlangt eine Position, in der er den Höchsten Persönlichen Gott umarmen oder sogar Sein Haupt küssen kann. Es sind solches Zeichen elterlicher Liebe zum Herrn. Die nächste Stufe ist mādhurya-rati, der Austausch von Wohlgeschmack in vertrauter Liebe. Auf dieser Stufe des transzendentalen liebevollen Dienstes kommt es zu einem Austausch von Blicken, zum Spiel der Mienen, man sagt sich liebe Worte oder lächelt einander liebevoll zu. So tauschten Kṛṣṇa und die Mädchen von Vraja zarte Blicke in vertrauter Liebeszugehörigkeit.
Neben den fünf hauptsächlichen rasas gibt es sieben Beziehungen zweiter Ordnung, und zwar in Heiterkeit, in visionärem Erleben, in ritterlichem Austausch, in Mitleiden, Zorn, Entsetzen und Vernichtung. So tauschte Bhīṣma mit Kṛṣṇa den transzendentalen rasa der ritterlich-kämpfenden Begegnung aus, und Hiraṇyakaṣipu erfuhr die Begegnung mit dem Höchsten in dessen grauenvoll-vernichtenden Form.
Die fünf hauptsächlichen rasas bleiben ständig im Herzen des reinen Gottgeweihten, wohingegen die sieben sekundären durch ihr Erscheinen und Verschwinden die bereits vorhandenen rasas lediglich bereichern. Beispiele für ṣānta-bhaktas, ṣānta-Gottgeweihte, sind die neun yogīs mit den Namen Kavi, Havi, Antarikṣa, Prabuddha, Pippallayāṇa, Havirhotra, Drāvīdā bzw. Drumila, Chamasā und Karabhajāṇa sowie große Weise wie die vier Kumāras Sanaka, Sanāndana, Sanātkumāra und Sanātana. Beispiele für Gottgeweihte in der transzendentalen Beziehung als Diener sind Raktaka, Citrika und Patraka, die Kṛṣṇa in Goloka dienen, Daruka, der Ihm in Dvārakā dient, und Hanumān, der Ihm auf einem der Vaikuṇṭha-Planeten dient. Zu den Gottgeweihten, die eine freundschaftliche Beziehung zu Kṛṣṇa haben, zählen Śrīdāmā in Vṛndāvana und Bhīma und Arjuna in Dvārakā oder auf dem Schlachtfeld von Kurukṣetra. Beispiele von Gottgeweihten, die Kṛṣṇa als Eltern lieben, sind Nanda und Yaṣodā in Vṛndāvana, Sein Onkel und andere Verwandte. Eine Beziehung zum Herrn in vertrauter Liebe haben die Mädchen von Vraja, Vṛndāvana, von denen Rādhārāṇī Kṛṣṇa am nächsten steht, und die Königinnen und Glücksgöttinnen in Dvārakā, von denen Rukmiṇī die Vortrefflichste ist.
Die Zuneigung für Kṛṣṇa ist von zweierlei Art. Die eine trägt die Merkmale der Scheu und Ehrfurcht; solch scheue und ehrfürchtig-liebevolle Beziehung, der es in gewisser Weise an Freiheit mangelt, findet man in Mathurā und auf den Vaikuṇṭha-Planeten. Dort ist der Geschmack am transzendentalen liebevollen Dienst nicht voll entfaltet. In Gokula oder in Vṛndāvana hingegen ist der liebende Austausch völlig zwanglos, und die Kuhhirten von Vṛndāvana, Jungen sowie Mädchen, zeigen keinerlei Zurückhaltung oder Scheu, denn ihre Beziehung zu Kṛṣṇa ist sehr vertraulich und intim. Zurückhaltung oder Scheu sind manchmal sogar hinderlich, wenn es darum geht, die Größe des Herrn zu erkennen oder Ihm vorbehaltlos zu dienen. Bei der freundschaftlichen, der elterlichen und der vertrauten Beziehung machen sich diese Scheu oder Zurückhaltung nur wenig bemerkbar. Als Kṛṣṇa hingegen als der Sohn Vasudevas und Devakīs erschien, verehrten Ihn die beiden voller Scheu und Ehrfurcht, da sie wußten, daß der Höchste Herr, Kṛṣṇa, Viṣṇu, als ihr Kind erschienen war. Es wird dies im Zehnten Canto des Śrīmad-Bhāgavatam im 51. Vers des 44. Kapitels wie folgt beschrieben: «Als Devakī und Vasudeva erkannten, daß der Höchste Persönliche Gott vor ihnen stand, begannen sie, Ihm ihre Gebete darzubringen, obwohl Er als ihr Kind erschienen war.« Und als Arjuna die universale Form des Herrn sah, überkam ihn große Furcht, und er bat Kṛṣṇa um Verzeihung, da er sich Ihm gegenüber als Freund oftmals ungezwungen verhalten hatte. Im Elften Kapitel der Bhagavad-gītā finden wir Arjunas Gebet: »Lieber Kṛṣṇa, ich habe Dich oftmals beleidigt, als ich Dich »meinen lieben Freund« nannte, ohne Deine unvorstellbare Macht zu kennen. Bitte vergib mir, daß ich so töricht war, Dich wie einen gewöhnlichen Freund oder einen gewöhnlichen Menschen zu behandeln.« Und als Kṛṣṇa mit Rukmiṇī scherzte, befürchtete diese, Er könne sie verlassen und war darum verstört. Rukmiṇī fächelte Kṛṣṇa gerade Kühlung zu, und als sie die Furcht überkam, Kṛṣṇa könne sie verlassen, fiel ihr der Fächer aus der Hand, ihr Haar öffnete sich, und sie stürzte wie ein vom Sturm gefällter Bananenbaum ohnmächtig zu Boden. Über Yaṣodā, Kṛṣṇas Mutter in Vṛndāvana, wird im Zehnten Canto des Śrīmad-Bhāgavatam im 36. Vers des 8. Kapitels gesagt: »Der Persönliche Gott, der in allen Veden und Upaniṣaden, in anderen autorisierten Schriften und im sāṅkhya-System der Philosophie verehrt wird, erschien, als sei Er ihr leiblicher Sohn.« Und im Zehnten Canto wird im 12. Vers des 9. Kapitels beschrieben, wie Mutter Yaṣodā den kleinen Kṛṣṇa mit einem Strick festband, damit Er nicht fortlaufen konnte, als sei Er ihr ungezogener Sohn und ein gewöhnliches Kind. Im 24. Vers des 18. Kapitels wird ein ähnliches Beispiel gegeben: »Als Kṛṣṇa von Seinen Freunden besiegt worden war, mußte Er Śrīdāmā auf den Schultern tragen.«
Kṛṣṇas Beziehungen zu den gopīs in Vṛndāvana wird ebenfalls im Zehnten Canto des Śrīmad-Bhāgavatam beschrieben: »Als Kṛṣṇa Śrīmatī Rādhika beim rāsa-Tanz aus der Mitte der anderen Tänzerinnen mit Sich fortnahm, dachte Śrīmatī Rādhika, Sie sei der Grund dafür, daß Kṛṣṇa all die anderen gopīs verlassen habe. Obwohl alle von gleicher Schönheit waren, glaubte Sie, Kṛṣṇa bevorzuge Sie und wolle Ihr nun Seine Zuneigung zeigen. Voller Stolz dachte Sie: »Kṛṣṇa hat all die wunderschönen gopīs verlassen, um mit Mir allein zu sein.« Laut sagte Sie dann: »Mein lieber Kṛṣṇa, Ich kann nicht mehr weiterlaufen, Meine Füße schmerzen so sehr - nimm Mich doch bitte auf Deine Schultern und trage Mich wohin Du willst.« Als Rādhika dies sagte, erwiderte Kṛṣṇa: »Komm nur zu Mir«, und sowie Er dies sagte, verschwand Er und ließ Śrīmatī Rādhika voller Reue zurück.
Als Kṛṣṇa den rāsa-Tanz verließ, klagten die gopīs verzweifelt: »Lieber Kṛṣṇa, wir haben unsere Gatten, Söhne, Verwandten, Brüder und Freunde verlassen und sind trotz ihrer wohlgemeinten Ratschläge zu Dir gekommen - Du Selbst weißt am besten warum. Du weißt, daß wir hierhergeeilt sind, weil wir vom süßen Spiel Deiner Flöte bezaubert wurden. Es ist sehr grausam von Dir, daß Du uns Mädchen und Frauen mitten in tiefer Nacht hierher gelockt und dann einfach allein gelassen hast! Das ist wirklich nicht schön von Dir.«
Das Wort »sama« bedeutet, die Gedanken nicht wahllos schweifen zu lassen, sondern auf den Höchsten Persönlichen Gott zu richten. Wer daher ständig an den Höchsten Persönlichen Gott denkt, befindet sich auf der Ebene des sama. Auf dieser Ebene versteht der Gottgeweihte, daß Kṛṣṇa das grundlegende Prinzip aller Dinge ist, die inner- und außerhalb unseres Erfahrungsbereiches liegen. Das gleiche wird in der Bhagavad-gītā erklärt; dort heißt es: »Wer nach vielen Geburten zu wahrer Erkenntnis gekommen ist, gibt sich Vāsudeva (Kṛṣṇa) hin, da er versteht, daß Kṛṣṇa allgegenwärtig ist und die gesamte kosmische Manifestation durchdringt.« Alles Existierende ist vom Höchsten Herrn geschaffen worden, und weil alles in Seiner Energie ruht, ist alles von Ihm in Seiner persönlichen Form verschieden. Dies geht auch aus dem Bhakti-rasāmṛtra-sindhu hervor, in welchem gesagt wird: »Wenn der Geist auf Kṛṣṇa gerichtet ist, hat man die Stufe des sama erreicht. Der Höchste Persönliche Gott sagt: samo mannisthata buddhi, was bedeutet, daß niemand, ohne auf die ṣānta-rati-Ebene zu gelangen, die Größe Kṛṣṇas und die Ausbreitung Seiner verschiedenen Energien kennen kann, die die Ursache aller Manifestationen sind. Das gleiche wird im Elften Canto des Śrīmad-Bhāgavatam im 33. Vers des 19. Kapitel noch ausführlicher erklärt; dort heißt es: »Geistige Ausgeglichenheit (sama) kann nur von dem erreicht werden, der davon überzeugt ist, daß der Höchste Persönliche Gott der Ursprung aller Dinge ist, und der seine Sinne beherrschen kann.« Wenn man bereit ist, alle nur erdenklichen Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen, um die Sinne zu beherrschen und den Geist im Gleichgewicht zu halten, nennt man dies »titikṣa« oder »Duldsamkeit«. Und wenn man das Drängen der Zunge und der Genitalien beherrschen kann, wird dies »dhṛti« genannt. Hat man die dhṛti Stufe erreicht, wird man dhīra, friedvoll. Ein friedvoller Mensch wird durch den Drang der Zunge und der Genitalien nicht mehr beunruhigt.
Die unerschütterliche Position im Kṛṣṇa-Bewußtsein, in der man seinen Geist ohne abzuschweifen auf Kṛṣṇa konzentrieren kann, nennt man ṣānta-rasa. Im ṣānta-rasa treten zwei Dinge besonders hervor: Unbeirrbares Vertrauen in Kṛṣṇa und das Aufhören aller materiellen Wünsche. Diese spezifischen Merkmale des ṣānta-rasa, die jedoch noch nichts mit Kṛṣṇa zu tun haben, gibt es auch in allen anderen rasas. Ähnlich wie Klangschwingungen, die aus dem Äther entstehen, auch in allen anderen Elementen wie Luft, Feuer, Wasser und Erde vorhanden sind, so sind die beiden Kennzeichen der ṣānta-rasa, nämlich unbeirrbarer Glaube an Kṛṣṇa und Wunschlosigkeit allem gegenüber, was nicht Kṛṣṇa ist, auch in den anderen tranzendentalen Beziehungen gegenwärtig wie dāsya (Dienerschaft), sākhya (Freundschaft), vātsalya (elterliche Zuneigung) und mādhurya-rasa (innige Liebe).
Wenn wir von etwas sprechen, was nicht Kṛṣṇa ist, so bedeutet das nicht, daß irgend etwas außerhalb von Kṛṣṇa existiert. Es kann nichts geben, was nicht Kṛṣṇa ist, weil alles ein Produkt der Energie Kṛṣṇa ist. Und da Kṛṣṇa und Seine Energien miteinander identisch sind, ist indirekt alles Kṛṣṇa. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Jedes Lebewesen hat ein Bewußtsein. Wenn dieses Bewußtsein vollständig auf Kṛṣṇa gerichtet ist, dann ist es rein und wird Kṛṣṇa-Bewußtsein genannt. Ein anderes Bewußtsein als Kṛṣṇa-Bewußtsein oder ein auf Sinnengenuß gerichtetes Bewußtsein wird »Nicht-Kṛṣṇa-Bewußtsein« genannt. In unreinem Zustand entsteht die Auffassung, es gebe etwas, das nicht Kṛṣṇa ist. Im reinen Zustand jedoch gibt es nichts außer Kṛṣṇa-Bewußtsein. Das aktive Interesse an Kṛṣṇa bei dem man glaubt, »Kṛṣṇa ist mein« oder »ich gehöre Kṛṣṇa, und es ist deshalb meine Aufgabe, Kṛṣṇa zu erfreuen«, ist eine höhere Stufe als die des ṣānta-rasa. Die Stufe des ṣānta-rasa zu erreichen, auf der das unpersönliche Brahman oder der, Paramātma verehrt werden, bedeutet, die Größe Kṛṣṇas zu erkennen. Die Verehrung des unpersönlichen Brahman und des Paramātma gehört zum Bereich der philosophischen Spekulation und des mystischen yoga. Doch wenn man sein Kṛṣṇa-Bewußtsein, d. h. sein spirituelles Verständnis, weiterentwickelt, beginnt man den Paramātma, die Überseele, als das ewig verehrungswürdige Objekt zu schätzen und gibt sich Ihm hin: bahūnāṁ janmanām ante. »Nach vielen, vielen Geburten«. Wenn man sich nach vielen Geburten, die zur Verehrung des Brahman und des Paramātma führten, dem Vāsudeva-Paramātma, dem Höchsten Herrn, hingibt und sich als den ewigen Diener Vāsudevas erkennt, erreicht man die transzendentale Ebene und ist damit eine selbstverwirklichte Seele. Da so die vertraute, enge Beziehung zur Höchsten Absoluten Wahrheit wiederaufgenommen wurde, beginnt man, dem Höchsten Persönlichen Gott in transzendentaler Liebe zu dienen, und so wandelt sich die Stufe des ṣānta-rasa, der neutralen Haltung, in dāsya-rasa Dienen.
Auf der dāsya-rasa-Stufe ist die Beziehung zum Höchsten Herrn von großer Ehrfurcht und Scheu gekennzeichnet. Die Größe des Herrn wird auch auf der Ebene des dāsya-rasa gewürdigt. Es sei hier vermerkt, daß im Zustand des ṣānta-rasa keine spirituelle Aktivität des Dienens ausgeführt wird, daß aber auf der Stufe des dāsya-rasa dieser Dienst beginnt. Deshalb finden wir im dāsya-rasa zwei Merkmale: die Eigenschaft des ṣānta-rasa und das Bewußtsein, der ewige Diener des Höchsten zu sein.
Śānta-rasa und dāsya-rasa sind zweifellos transzendentale Stufen der Liebe zu Gott, doch darüber hinaus gibt es noch die vertrauliche Zuneigung bzw. reine transzendentale Liebe. Dieses Vertrauen in die Höchste Persönlichkeit nennt man viṣrambha. Auf der Stufe des viṣrambha, der Brüderlichkeit, hat der Gottgeweihte keine Ehrfurcht oder Scheu vor dem Höchsten Persönlichen Gott. Somit gibt es in der transzendentalen Beziehung des ṣākhya-rasa drei transzendentale Eigenschaften: die Würdigung der Größe, das Gefühl der Verwandtschaft und die Beziehung der Vertrautheit ohne jede Ehrfurcht oder Scheu. In der Beziehung als Freund gibt es also eine transzendentale Eigenschaft mehr als in der des Dieners.
Die Stufe der elterlichen Zuneigung, vātsalya-rasa, ist von vier Eigenschaften gekennzeichnet; zu den drei oben genannten kommt das Gefühl des Gottgeweihten hinzu, daß der Höchste Herr von seiner Gnade abhängig ist. Als Vater oder Mutter des Höchsten Persönlichen Gottes bestraft der Gottgeweihte den Höchsten Herrn auch manchmal und glaubt, für Ihn sorgen zu müssen. Dieses transzendentale Gefühl, der Erhalter des Höchsten Erhalters zu sein, bereitet sowohl dem Gottgeweihten als auch dem Höchsten Persönlichen Gott große Freude.
Der Herr beauftragte also Śrīla Rūpa Gosvāmī, die transzendentale Schrift Bhakti-rasāmṛta-sindhu (die Wissenschaft des hingebungsvollen Dienens) zu verfassen und darin das Wesen der fünf transzendentalen Beziehungen zu beschreiben. Dort wird genau erklärt, wie sich die transzendentale Eigenschaft des ṣānta-rasa, der unbeirrbare Glaube an Kṛṣṇa, zur Beziehung als Diener, dāsya-rasa, entwickelt, dann zum sākhya-rasa und damit zur unbeirrbaren Freundschaft wird und sich noch weiter entfaltet zum transzendentalen Geschmack der elterlichen Liebe, in der der Gottgeweihte das Gefühl hat, für den Herrn sorgen zu müssen. Alle Beziehungen gipfeln schließlich im mādhurya-rasa, in der innigen Liebe, in der alle verschiedenen transzendentalen Beziehungen gleichzeitig existieren.
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